Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Rußland. (Juni 14./18.) 383 
Partei der demokratischen Reform 14, zum Verband vom 17. Oktober 12. 
— Die Kadetten bilden also ein Drittel des Bestandes, die Arbeiterpartei 
weniger als ein Viertel. Die ebenso starken Parteilosen setzen sich haupt- 
sächlich aus Bauern zusammen, die sich auf dem Fragebogen häufig zu der 
Arbeitspartei anschrieben, sich im übrigen aber mit den Konstitutionellen 
Demokraten übereinstimmend deklarierten. In der Arbeitspartei gibt es: 
2 Sozialrevolutionäre, 10 Sozialdemokraten, 7 Bauernbündler, je 1 oder 2 
Radikale, Freisinnige, parteilose Sozialisten u. s. w. (Nach der „Allg. Ztg.") 
Nach dem 1. Juni treffen noch 30 Abgeordnete aus dem Kaukasus 
und Sibirien ein und verstärken die Linke. Auch die Sozialdemokraten 
bilden dann eine besondere Partei. 
14. Juni. (Duma.) Debatte über Abschaffung der Todesstrafe. 
Mehrere Anträge verlangen Abschaffung der Todesstrafe resp. Nicht- 
bestätigung der von den Gerichten ausgesprochenen Todesurteile. Ver- 
treter des Kriegsministers General Pawlow: Die Todesstrafe könne vom 
Kriegsminister nicht abgeschafft werden, da derselbe nicht das Recht habe, 
sich den Entscheidungen der Gerichte in den Weg zu stellen. — Von vielen 
Bänken ertönen Rufe: Mörder! und Henker! — Pope Ofanassiew feiert 
Leutnant Schmidt (S. 372) als Freiheitshelden; der Zorn Gottes werde 
auf die amtlichen Uebeltäter niederfallen; sie würden im Gesetz kaum Schutz 
finden, wenn das erbitterte Volk gegen sie aufstehen werde. Anikin 
(Arbeiterp.) schlägt vor, die Duma solle sich an das Volk wenden und ihm 
mitteilen, daß sie machtlos sei und nicht einmal ein paar Menschen das 
Leben retten könne. — Folgende Tagesordnung wird mit großer Mehrheit 
angenommen: Die Duma betrachtet die Erklärungen des Kriegsministers 
als eine Weigerung, ihren Forderungen zu entsprechen. Sie drückt ihre 
Entrüstung über den Ton und die Form der Erklärungen aus und geht 
zur Tagesordnung über. 
14./18. Juni. (Bjalystok.) Judenmetzeleien. Verschiedene 
Darstellung der Ursachen. 
Der „Regierungsbote" veröffentlicht am 4. Juli einen Bericht hier- 
über: Am 14. Juni fanden in Bjalystok Unruhen statt, deren Ergebnis 
82 Tote (7 Christen und 75 Juden) und 78 Verwundete (18 Christen 
und 60 Juden) sowie die Plünderung von 169 jüdischen Wohnungen und 
Buden war, was einen Verlust von annähernd 200000 Rubel verursachte. 
Zwecks Ermittelung der genauen Ursachen der Unruhen sandte der Minister 
des Innern ein Mitglied des Ministerrates, den Stallmeister Frisch, nach 
Bjalystok. Die hierdurch gewonnenen Nachrichten als auch andere bei der 
Regierung eingegangene Mitteilungen ergaben folgendes: Bjalystok, welches 
etwa 100000 Einwohner zählt, wovon 70 Prozent Juden sind, wurde in 
den letzten Jahren zum Hauptzentrum der revolutionären Bewegung des 
westlichen Gebietes. Die verbrecherische Tätigkeit der dortigen revolutio- 
nären Kreise wuchs besonders im Jahre 1905 und zeitigte eine Reihe von 
Morden und Mordanschlägen gegen Amtspersonen und die Ortspolizei. 
Bei der Einführung des Kriegszustandes im September 1905 wurden die 
terroristischen Umtriebe schwächer, erwachten aber mit erneuter Kraft, als am 
1. März 1906 der Kriegszustand aufgehoben wurde. In der Zeit vom 
1. März bis 1. Juni wurden in Bialystok 45 gerichtliche Untersuchungen 
wegen terroristischer, gegen Amts- und Privatpersonen gerichteter Verbrechen 
eingeleitet, wobei größtenteils die Schuldigen unermittelt blieben, da die 
Augenzeugen aus Furcht vor Rache keine Angaben machten. Eine Reihe 
derartiger Anschläge versetzte Bjalystok in einen panikartigen Zustand. Die
	        
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