Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Nebersicht über die politische Eniwiuelung des Jahres 1906. 437 
Diskussionen über die Haltung der einzelnen Mächte in Algeciras. 
Man fand es allgemein selbstverständlich, daß England und Ruß- 
land zu Frankreich, Osterreich-Ungarn zu Deutschland gehalten habe; 
schwieriger war es, die Haltung Italiens, das Frankreich im wesent- 
lichen gegen seine beiden Dreibundsgenossen unterstützt hatte, zu 
würdigen. Italien hat diese Politik eingeschlagen in der Absicht, 
in allen Mittelmeerfragen mit Frankreich und England, den beiden 
stärksten Mittelmeermächten, eng verbunden zu bleiben, um nicht 
seine Interessen in Tripolis, die ihm diese Mächte durch ein ge- 
heimes Abkommen gesichert haben (vgl. S. 185, 336 und Jahr- 
gang 1905 S. 230), zu gefährden. Wie natürlich wurde diese 
Haltung Italiens in der Presse aller Länder je nach den eigenen 
Wünschen beurteilt: die französische, englische und ein Teil der 
italienischen selbst begrüßten darin die schon lange vorbereitete 
Abwendung vom Dreibunde, ein Teil der deutschen sah darin eine 
Illoyalität des Verbündeten; monatelang zogen sich die Erörte- 
rungen über den Wert und die Aussichten des Dreibundes hin, 
obgleich die Regierungen aller drei Staaten wiederholt erklärten, 
an dem Dreibunde festhalten zu wollen und seine Notwendigkeit 
als europäischer Friedenshort betonten. Man kann nicht sagen, 
daß die Diskussion in der Presse und in Parlamenten von ein- 
dringendem Verständnis der Interessen und Motive der Großstaaten 
zeugte. Die Darlegungen über Deutschland pflegten in dem mit 
Freude oder Trauer ausgesprochenen Urteil zu gipfeln, daß Deutsch- 
land isoliert sei, daß es bei dem Zerbröckeln des Dreibundes nur 
an Osterreich-Ungarn eine Stütze finde, daß es seine glänzende 
Stellung aus der Zeit Bismarcks verscherzt habe, daß es überall 
für kriegerisch gelte und täglich unbeliebter werde und daher auch 
in Marokko keinen Erfolg errungen habe. Verantwortlich für diese 
Verschlechterung wurde in Deutschland gewöhnlich die Diplomatie 
und das „persönliche“ Regiment des Kaisers gemacht. 
In solchen Ausführungen wurde meist übersehen, daß die 
Unbeliebtheit Deutschlands die natürliche Wirkung seiner gestie- 
genen wirtschaftlichen und politischen Macht ist, daß der durch die 
große Volksvermehrung erzwungene Eintritt in die Weltpolitik ihr 
neue Gegner verschaffen und eine neue Konstellation der Mächte
	        
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