Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

438 Mebersichl über die polilische Eniwickelung de# Jahres 1906. 
herbeiführen mußte. Das alte Deutschland, das eine ausschließ- 
lich mitteleuropäische Macht war, konnte leicht im Auslande — 
abgesehen von einigen seiner Nachbarn — beliebt sein und den 
Ruf der Friedfertigkeit genießen; das neue Deutschland, das mit 
allen Nationen in Handel und Industrie konkurriert, das nach 
Kolonialbesitz strebt und Länder okkupiert, auf die auch andere ihr 
Auge geworfen hatten, kommt ganz von selbst in den Ruf des 
Friedensstörers und begehrlichen Zugreifers. Niemand hatte von 
ihm eine solche Entwickelung erwartet: darum rechnet der gemeine 
Verstand den Deutschen das zum Verbrechen an, was für andere 
Nationen selbstverständlich ist. Wie wenig das Ausland seine 
klassische Auffassung Deutschlands, als des unpolitischen Landes der 
Dichter und Denker, aufgegeben hat, beleuchtet eine Umfrage: „Was 
schätzen Sie an Deutschland am meisten?“, die eine Berliner Zeitung 
(„Der Tag“) an zahlreiche bekannte Männer fast sämtlicher euro- 
päischer Nationen gerichtet hatte (Dezember 1906). Die Antworten 
flossen über von Bewunderung für den deutschen Idealismus, die 
Philosophie, Musik, für Leibniz, Richard Wagner, Heinrich Heine: 
von seinen Leistungen in Handel und Industrie war kaum die 
Rede; seine politischen und militärischen Großtaten, Bismarck, 
Moltke, Friedrich der Große und andere Herven aus dem Reiche 
der Tat wurden gar nicht erwähnt. Es sei das Deuschland von 
1860, das er liebe, sagt z. B. Gabriel Hanotaux, der frühere fran- 
zösische Minister des Auswärtigen, der gelehrte Geschichtsschreiber 
Richelieus und des modernen Frankreichs, und dieser Geist lebte 
in allen Urteilen. Es konnte nicht besser ausgedrückt werden, daß 
es nicht der Charakter der Diplomatie Deutschlands oder seines 
Herrschers ist, die die Unbeliebtheit hervorgerufen haben, sondern 
seine Stärke, an die man sich noch nicht gewöhnt hat und die man 
deshalb besonders drückend empfindet. Persönliche Handlungen und 
Eigenschaften mögen die Empfindungen im Auslande günstig oder 
ungünstig beeinflußt haben, politische Fehler der Staatsleitung 
mögen manche Schwierigkeit vergrößert haben: neben den großen 
sachlichen Momenten sind das Dinge von untergeordneter Bedeutung. 
Aus jenem Grunde hatte Deutschland auch in Algeciras die 
Mehrzahl der Großmächte gegen sich: man hätte ganz gern die
	        
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