Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Nebersicht über die politisee Entwiselung des Jahres 1906. 439 
Gelegenheit benützt, seine Expansion an einer Stelle zu beschränken. 
Daß man damit gleichzeitig den Franzosen in die Hände arbeitete, 
war das kleinere übel, denn Frankreich flößt infolge der Stagna- 
tion seiner Bevölkerung nicht dieselben Besorgnisse wie Deutschland 
ein. Man war bereit, Marokko den Franzosen preiszugeben, in 
der Gewißheit, daß Frankreichs Kraft nicht für die wirtschaftliche 
Ausbeutung Marokkos genüge, in der Zuversicht, daß Frankreich 
seine Vormachtstellung in Marokko zwar benutzen werde, die Deut- 
schen auszuschließen oder zu behindern, aber nicht die übrigen 
Nationen, mit denen es engere Beziehungen unterhält. Bei diesem 
übelwollen der europäischen Mächte ist es gewiß kein kleiner Er- 
folg der deutschen Diplomatie, dem deutschen Handel gerechte Be- 
handlung gesichert zu haben. Mehr zu erreichen, war schwerlich 
möglich. Die Okkupation eines marokkanischen Hafens insbesondere, 
die manche Stimmen in Deutschland forderten, war von vornherein 
ausgeschlossen, weil Deutschland die französischen Ansprüche nur 
auf der Basis der Integrität Marokkos bekämpfen konnte, über- 
dies war sie gar nicht wünschenswert, da Deutschland hierdurch die 
Sympathie der Mohammedaner, die es durch die Vereitelung der 
französischen Protektoratspolitik gewonnen hatte, wieder verloren 
hätte. Diese Sympathie ist dem Handel aber nützlicher als der 
Besitz eines Hafens und ihre Wirkungen erstrecken sich über Ma- 
rokko hinaus in alle Länder des Islam. Sie ist daher für die 
großen wirtschaftlichen Interessen Deutschlands im Orient von 
Wert und kann in internationalen Verwickelungen ein wichtiger 
Faktor werden. Die öffentliche Meinung in Deutschland verkannte 
freilich diese Dinge im allgemeinen vollständig. Sie sah, daß 
Deutschland an der Polizei in Marokko keinen Anteil hatte und 
konstruierte daraus eine Niederlage. 
In den Erörterungen über die Politik der Mächte kam ferner 
selten zum Ausdruck, daß mit der Abwandlung der internationalen 
Beziehungen seit Deutschlands lebhafterer überseeischer Betätigung 
auch die Stellung des Dreibundes notwendig verschoben werden 
mußte. Italien ist dem Dreibunde beigetreten vornehmlich wegen 
Besorgnis vor einer Annexion von Tripolis durch Frankreich: da 
Frankreich jetzt hiergegen genügende Garantien gegeben hat, fällt
	        
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