Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

440 Mebersiczt über die politische Eutwichelung des Jahres 1906. 
dieses Motiv, sich mit Frankreichs Feinden zu verbinden, weg, ver- 
wandelt sich vielmehr in einen Antrieb, gute Beziehungen mit ihm 
zu unterhalten. Ferner besteht seit dem Schluß des vorigen Jahr- 
hunderts eine Rivalität zwischen Italien und Österreich-Ungarn, 
die es früher nicht gegeben hatte: da Deutschland Österreich-Ungarn 
unterstützen muß in dem Bestreben, in den ihm benachbarten Balkan- 
ländern maßgebenden Einfluß zu behaupten, einmal um die Groß- 
machtsstellung Österreich-Ungarns zu erhalten, sodann um seine 
eigenen wirtschaftlichen Interessen am Balkan zu sichern, so muß 
sich Italien nach anderen Stützen seiner Balkanpolitik umsehen. 
Unterstützung findet es bei Frankreich und England, die beide den 
österreichisch-deutschen Einfluß im Orient namentlich wegen der 
großen deutschen wirtschaftlichen Expansionskraft ungern sehen. 
So bildeten die östlichen Interessen ein weiteres Bindeglied zwischen 
Italien und den antideutschen Mächten in Algeciras. — Was 
Italien dagegen mit Deutschland und Österreich verbindet, ist einer- 
seits das Bestreben, sich dem übermächtigen Frankreich durch Zer- 
reißung des bisherigen Bündnisses nicht auszuliefern, andererseits 
das mit den beiden anderen Mächten gemeinsame Interesse, den 
Kontinentalfrieden zu erhalten. Dadurch, daß es sich Deutschland 
zur Hilfe gegen einen französischen Angriff verpflichtet hat, hat es 
viel zur Eindämmung der französischen Revanchegelüste beigetragen. 
Diese beiden Momente sind stark genug, den Dreibund trotz welt- 
politischer Differenzen bestehen zu lassen. — Wie diese Erkenntnis 
so fehlte auch die andere, daß Deutschland seinerseits heute des 
italienischen Bündnisses viel weniger bedarf als früher und durch 
die Wandlung der italienischen Politik keine Einbuße erlitten hat. 
Der Dreibund war zur Abwehr eines Krieges mit zwei Fronten 
geschlossen, und ein solcher Krieg liegt seit Rußlands Zusammen- 
bruch für absehbare Zeit außer dem Bereiche der Wahrscheinlichkeit, 
Frankreich allein kann aber einen Krieg mit Deutschland nicht 
mehr wagen. Die Erhaltung des Friedens wird somit durch die 
Zugehörigkeit Italiens zum Dreibunde wohl erleichtert, ist aber 
nicht mehr von ihr abhängig: Jubel wie Klagen über Deutsch- 
lands angebliche Isolierung, seine geschwächte europäische Stellung 
und den Zerfall des Dreibundes sind gegenstandslos, und es ist
	        
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