Nebersicht über die polilische Entwichelung des Jahres 1906. 441
schief, die Zeit Bismarcks der Gegenwart gegenüberzu-
stellen.
Die kontinentale Stellung Deutschlands, das eigentliche Erbe
des Fürsten Bismarck, ist somit kaum angreifbar, aber eine Schwäche
zeigt seine Weltpolitik in den Beziehungen zu England. Es ist
in früheren Jahrgängen ausgeführt worden, wie diese Spannung
entstanden ist, daß auch hierfür die allgemeine Abwandlung die
Ursache ist, und daß einzelne Vorgänge, wie Preßartikel, das
Krügertelegramm, die Chamberlainsche Kritik der deutschen Armee,
die englische Polemik gegen den Ausbau der deutschen Flotte, nur
die Spannung verschärft und ihre Form beeinflußt, sie aber nicht
hervorgerufen haben. Es ist ferner dargelegt worden, welche Ge-
fahren für Deutschland aus einem deutsch-englischen Kriege er-
wachsen können und welche Nachteile er auch für England im Ge-
folge haben muß, und welche Mittel auf beiden Seiten angewendet
worden sind, um den Gegensatz zu mildern. Auch im letzten Jahre
haben solche Beschwichtigungsmittel, wie Monarchenbesuche, gegen-
seitige Besuche von Journalisten, Stadträten und Arbeitern, sowie
friedliche Erklärungen in den Parlamenten wieder eine Rolle ge-
spielt, und in der Tat hat der Preßkrieg nachgelassen. Anscheinend
haben sich die Beziehungen gebessert und die Wahrscheinlichkeit eines
Konfliktes ist verschwunden.
Mit ähnlicher Befriedigung wie auf die auswärtige Politik
kann Deutschland auf die innere zurückblicken. Wie oben aus-
geführt, beruht seine Machtstellung wesentlich auf seiner eigenen
Stärke. Im Ausbau seiner Kraft waren aber zwei wichtige Zweige
lange Zeit vernachlässigt worden: die Reichsfinanzen und die Marine,
und diese beiden Versäumnisse sind zum Teil wenigstens gut ge-
macht worden. Der im vorigen Jahrgang mitgeteilte Finanz-
reformplan der Regierung, der Steuern auf Bier, Tabak, Ziga-
retten, Frachturkunden, Personenfahrkarten, Automobile, Quittungen
und Erbschaften vorschlug, wurde in einer mehrmonatigen Beratung
gründlich umgewandelt. Von den Verbrauchsabgaben wurde die
Tabaksteuer beseitigt, die Biersteuer auf die Hälfte des von der
Regierung gewünschten Ertrags reduziert, weil die Mehrheit des
Reichstags sich durch eine lebendige Agitation der Interessentenkreise