Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Mebersicht über die politische Entwichelung des Jahres 1906. 443 
Abneigung des schutzzöllnerischen Senats der Vereinigten Staaten, 
die industriellen Tarife herabzusetzen, gescheitert ist, die deutsche 
Industrie aber großes Interesse an einem solchen Handelsvertrage 
und guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Amerika hat, so erteilte 
der Reichstag der Regierung die Vollmacht, den Amerikanern bis 
zum 30. Juni 1907 den Konventionaltarif zu gewähren, in der 
Erwartung, daß bis zu diesem Termin ein endgültiger Handels- 
vertrag geschlossen wird. Durch dieses Gesetz gewährt Deutschland 
den Amerikanern einstweilen dieselben Tarife wie anderen Staaten, 
die einen Handelsvertrag mit ihm geschlossen, also Gegenleistungen 
dargebracht haben. Amerika hat solche Gegenkonzessionen nicht ge- 
macht, müßte also nach dem Generaltarif behandelt werden. In- 
dessen hat Deutschland diese einseitige Vergünstigung gewährt, um 
einen Zollkrieg zu vermeiden und während der Dauer des Provi- 
soriums freundschaftliche Verhandlungen über einen Handelsvertrag 
führen zu können. Es ist aber zugleich im Reichstag betont wor- 
den, daß eine Verlängerung nicht stattfinden dürfe und daß man, 
falls Amerika sich bis zum 1. Juni 1907 zu einem Handelsvertrage 
nicht herbeilasse, selbst einen Handelskrieg nicht scheuen werde. — 
Hervorzuheben ist noch, daß der Reichstag nach jahrelangen Kämpfen 
neue Pensionsgesetze für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften 
angenommen hat. Das Gesetz für Unteroffiziere und Mannschaften 
gewährt nach dem Grade der Erwerbsfähigkeit abgestufte Renten, 
das für Offiziere bringt Erhöhungen für alle seit dem 1. April 1905 
Pensionierten. 
Mit der auswärtigen Politik beschäftigte sich der Reichs- 
tag wie alljährlich mehrfach. Zuerst war, solange die Marokko- 
konferenz noch nicht beendet war, Reserve geboten, dann wurden 
die Verhandlungen hierüber durch die Erkrankung des Reichskanzlers 
(S. 88) unterbrochen. Dies Ereignis war von tiefem Einfluß auf 
die Stimmung der Nation den auswärtigen Dingen gegenüber. 
Die öffentliche Meinung beurteilte ja wie oben dargelegt die Ma- 
rokkofrage und die internationale Lage im allgemeinen falsch. Sie 
vermißte positive Erfolge und verkannte, daß Deutschland bei der 
unvermeidlichen Gegnerschaft der meisten Mächte in seiner ganzen 
Politik vorsichtig auftreten muß, daß es jetzt gar keine Möglichkeit
	        
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