Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

444 Kebersicht über die politische Entwichkelung des Jahres 1906. 
hat, glänzende äußere Erfolge zu erringen, daß es schon von großer 
Bedeutung ist, wenn Deutschland unter Vermeidung von Konflikten 
stetig seine Handelsinteressen in den überseeischen Gebieten auszu- 
breiten und sich dadurch wirtschaftlich und politisch zu kräftigen 
vermag. Die öffentliche Meinung machte dagegen für die angeblich 
unerfreuliche Lage die persönliche Politik des Kaisers verantwort- 
lich und fürchtete nun, bei der Verringerung der Arbeitsfähigkeit 
des Kanzlers würde das Staatsschiff vollends in falsches Fahr- 
wasser geraten. Solche Bedenken entluden sich in mannigfachen 
Angriffen auf die Leitung der auswärtigen Geschäfte und veran- 
laßten ihrerseits den Kaiser zu einer scharfen Abweisung derartiger 
Kritiken (S. 160). Die Interpellation Bassermann im Reichstag 
war eine weitere Folge der verbreiteten Mißstimmung; es scheint 
aber dem Reichskanzler durch ihre Beantwortung gelungen zu sein, 
das gesunkene Vertrauen wieder zu beleben (S. 180 bis 201). 
Noch mehr Raum haben in Parlament und Offentlichkeit 
die Kolonialdebatten in Anspruch genommen. Schon im Vor- 
jahre hatte die Regierung angekündigt, daß sie einen lebendigeren 
Zug in die Kolonialpolitik zu bringen gedenke; Forderungen für 
Eisenbahnbauten und für die Umwandlung des Kolonialamts, das 
bisher unter dem Staatssekretär des Auswärtigen stand, in ein 
selbständiges Staatssekretariat waren die Folgen dieses Entschlusses. 
Diese Forderungen fanden teilweise Widerspruch im Zentrum. Ob- 
gleich das Zentrum im letzten halben Menschenalter mehr und 
mehr Regierungspartei geworden war und insbesondere die wich- 
tigsten weltpolitischen Forderungen mitbewilligt hatte, hatte es 
unter seinen Wählern doch stets starke Schichten, ja ganze Wahl- 
kreise, die den weltpolitischen Tendenzen innerlich fremd gegenüber- 
standen oder aus der Zeit des Kulturkampfes noch starke opposi- 
tionelle Neigungen behalten hatten. Stets hat das Zentrum auf 
solche Anschauungen und Gefühle Rücksicht nehmen müssen, indessen 
gelang es, sie in wichtigen Fragen, wie bei der Flottenverstärkung, 
der Neuregelung des Zolltarifs, der Finanzreform, zurückzud rängen. 
Diese oppositionellen Elemente fanden nun seit 1905 einen rührigen 
und intelligenten Führer, den Abg. Erzberger. Er machte sich 
namentlich bekannt durch seine Polemik gegen wirkliche oder ver-
	        
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