Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

446 Nebersicht über die pyolitische Eulwichelung des Jahres 1906. 
tags mit großer Breite auftrat, fand keineswegs den Beifall sämt- 
licher Zentrumsmitglieder. Die Versuche Erzbergers z. B., die 
Beamtenauswahl zu beeinflussen, wurden durch den Abg. Spahn, 
der bisher als Hauptführer der Partei galt, zurückgewiesen. Offen- 
bar befürchteten die bisherigen Führer von der Überhandnahme 
des Erzbergerschen Einflusses eine Verschlechterung der Beziehungen 
zwischen Regierung und Zentrum; die fortgesetzte Kritik mußte die 
Oppositionslust in den eigenen Reihen stärken und dem Zentrum 
die Rolle als Regierungspartei erschweren. Aus patriotischen und 
parteipolitischen Gründen war ihnen an der Aufrechterhaltung der 
ausschlaggebenden Stellung des Zentrums gelegen, und das erfor- 
derte Vermeidung eines scharfen Konfliktes mit der Regierung. 
In den kolonialen Fragen trug es aber der oppositionelle Flügel 
davon: die Bahn Kubub-Keetmanshoop, die zur Führung des 
Feldzugs im Süden Südwestafrikas und zur Erschließung des Schutz- 
gebiets notwendig war, wurde abgelehnt, ebenso die Errichtung des 
selbständigen Kolonialstaatssekretariats (S. 118). Das Zentrum 
spaltete sich in der Abstimmung über diesen letzten Posten, und 
nach dem Eindruck der Augenzeugen ist es selbst unangenehm von 
der Ablehnung überrascht worden. Die Führer scheinen gehofft 
zu haben, daß sich, da nur zwei Drittel ihrer Partei gegen die 
Forderung, ein Drittel dafür stimmte oder fehlte, doch eine Mehr- 
heit finden würde, so daß ein offener Konflikt vermieden würde. 
Die Ablehnung erfolgte unmittelbar vor der Vertagung (26. Mai), 
so daß sich nicht sogleich übersehen ließ, welche Konsequenzen dar- 
aus entstehen würden. 
Wie natürlich ging im Sommer nach diesem Erfolg der 
Opposition die Kritik an den kolonialen Zuständen weiter. Sie 
richtete sich jetzt namentlich gegen die Zentralverwaltung und brachte 
Enthüllungen über angebliche Unregelmäßigkeiten im Besoldungs- 
wesen, Ungerechtigkeiten gegen Unterbeamte und Ungeschick beim 
Abschluß von Lieferungsverträgen, wodurch zwei privilegierten 
Firmen Millionen in den Schoß geworfen worden seien. Auch 
hier standen Erzberger und klerikale Blätter im Vordergrunde, 
Angehörige der Linken spielten eine Nebenrolle. Diese Angriffe 
riefen zunächst einen Wechsel im Kolonialamt hervor (S. 161) und
	        
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