Nebersicht über die politische Entwickelung des Jahreo 1906. 447
erweiterten die Kluft zwischen Regierung und Zentrum immer mehr.
Das zeigte sich sogleich beim Beginn der Herbsttagung. Die Ab-
geordneten Roeren und Erzberger erneuerten die schon in der Presse
erhobenen Vorwürfe und warfen der Regierung vor, die Mißstände
vertuschen zu wollen, obgleich die Regierung Untersuchung zugesagt
und die Anderung der schädlichen Lieferungsverträge bereits in
Angriff genommen hatte. Der neue Leiter des Kolonialamts, Ge-
heimrat Dernburg, trat ihnen jedoch mit ungewohnter Schärfe
entgegen. Ohne früher begangene Fehler in Abrede stellen oder
beschönigen zu wollen, entkräftete er eine ganze Reihe von Vor-
würfen und wies namentlich nach, daß der Abg. Roeren lange Zeit
durch die gegen einen früheren Leiter des Kolonialamts ausgespro-
chene Drohung, das Zentrum werde für die Kolonien nichts mehr
bewilligen, eine illegale Pression auf die Kolonialverwaltung zu-
gunsten oder ungunsten gewisser Beamten und Missionare ausgeübt
habe. Ferner wies er nach, daß Roeren auf Grund falschen oder
unkontrollierbaren Klatsches mehrere ehrenhafte Beamte aufs schwerste
beleidigt habe, daß er aber andererseits sich bereit erklärt habe,
einige Beschwerden nicht in die Offentlichkeit zu bringen, falls ihm
die Regierung einige Wünsche in Personalfragen erfülle. Also
nicht die Regierung sondern der Zentrumsabgeordnete habe Ver-
tuschungspolitik getrieben. Diese energische Verteidigung der Kolonial-
beamten und die Abweisung des Zentrumseinflusses wurde auf der
Rechten und Linken als Entlarvung einer „Nebenregierung“ mit
Jubel begrüßt und vom Reichskanzler ausdrücklich gutgeheißen.
Die Folge war, daß das Zentrum der Regierung seine Macht zu
zeigen beschloß. Als die Regierung 29 Millionen zur Führung
des südwestafrikanischen Krieges forderte, strich es mit Hilfe der
Sozialdemokraten und Polen 9 Millionen und verlangte überdies
unter Berufung auf die verbesserte Kriegslage, daß vom 1. April
ab die Schutztruppe auf 2500 Mann verringert werde. Dies Ver-
langen überschritt die Befugnisse des Reichstags, da er wohl die
Forderungen der Regierung verwerfen aber zur Bedingung der
Bewilligung nicht die Festsetzung einer bestimmten Truppenstärke
während des Feldzugs machen darf, da diese zur Kommandogewalt
des Kaisers gehört. Obgleich der Reichskanzler keinen Zweifel ließ,