Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

448 Mebersichl üher die pelilisete Enlwielung des Zahres 1906. 
daß Kaiser und Bundesrat sich den Zentrumsforderungen nicht 
fügen würden, blieb das Zentrum unnachgiebig und lehnte mit 
Hilfe der Polen und Sozialdemokraten einen von der Regierung 
gebilligten freisinnigen Kompromißantrag in zweiter Lesung ab. 
Unmittelbar nach der Ablehnung wurde der Reichstag aufgelöst, 
ohne daß erst bis zur dritten Lesung ein neuer Verständigungs- 
versuch unternommen worden wäre (13. Dezember). 
Wenn so das Zentrum durch seinen übergang zur Opposition 
die Katastrophe hervorgerufen hat, so haben umgekehrt die Frei- 
sinnigen eine entschiedene Schwenkung nach der anderen Seite 
unternommen. Die freisinnige Vereinigung hat den militärischen 
und weltpolitischen Forderungen schon lange keinen Widerstand mehr 
entgegengesetzt und der Widerstand der freisinnigen Volkspartei war 
ebenfalls mehr und mehr erlahmt; die letzte Marinevorlage z. B. 
hatte sie grundsätzlich gebilligt und nur abgelehnt, weil sie mit 
ihrer Deckung durch indirekte Steuern nicht einverstanden war. 
Aber viele glaubten, daß sie die Vorlage nicht hätte scheitern lassen, 
wenn es auf ihre Abstimmung angekommen wäre. Eines der vom 
Abg. Eugen Richter und seinen nächsten Freunden am heftigsten 
bekämpften Gebiete war ferner die Kolonialpolitik. Auch hier hat 
die freisinnige Volkspartei Schritt für Schritt nachgegeben; so hat 
sie das Kolonialstaatssekretariat im Gegensatz zum Zentrum be- 
willigt. Je weiter das Zentrum sich von der Regierung entfernte, 
desto näher rückte ihr die freisinnige Volkspartei: sie trat dem Be- 
gehren des Zentrums, die Kriegführung in Südwestafrika durch 
Festsetzung der Truppenstärke zu kontrollieren, entgegen durch den 
Antrag Ablaß, der die geforderte Summe bewilligte mit der Maß- 
gabe, daß neben der von der Regierung schon begonnenen Heim- 
sendung der überschüssigen Truppen die Vorbereitungen getroffen 
würden zur weiteren Verminderung der Truppen entsprechend der 
Kriegslage. Hierauf konnte die Regierung eingehen, da er keine 
bindende Beschränkung der Truppenzahl enthielt. — Mancherlei 
Momente mögen zusammengewirkt haben, um diesen Umschwung 
herbeizuführen: die höhere Einsicht der Führer nach Richters Tode, 
die Persönlichkeit des neuen Kolonialdirektors, das Bewußtsein, 
daß die die Linke von der Regierung und der Rechten trennende
	        
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