Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

FJas Dentsihe Reich und seine einjelnen Glieder. (März 25.) 73 
unsere Presse im allgemeinen die russischen Vorgänge durchaus ruhig be- 
handelt hat. Auf die vereinzelten Vorstöße folgt jetzt ein organisiertes 
Vorgehen, das aus dem Grunde Beachtung verdient, weil es sich nicht auf 
Preßkreise beschränkt, sondern in der sogenannten Gesellschaft zu werben 
sucht. Die deutsche St. Petersburger Zeitung hebt in dieser Beziehung als 
eine der bemerkenswertesten Erscheinungen der letzten Zeit hervor, daß, 
während in den letzten Jahrzehnten panfslavistische Ideen ausschließlich in 
reaktionären Kreisen gepflegt wurden, sich jetzt in gewissen sehr liberalen 
Kreisen starke panflavistische Tendenzen immer deutlicher bemerkbar machen. 
Das Organ dieser Kreise ist die Ruß, die seit einigen Monaten eifrig für 
die Gründung einer Slavischen Liga Propaganda macht. Dieser Plan 
scheint immer festere Gestalt anzunehmen, wie aus einem der letzten Leit- 
artikel des Blattes hervorgeht, wo es heißt: „In nächster Zeit wird in 
St. Petersburg die Konstituierung einer politischen Organisation unter dem 
Namen „Sloavische Liga“ stattfinden. Ziel derselben ist die Verwirklichung 
einer panflavistischen Einigung zum friedlichen Gegengewicht gegen die ag- 
gressiven Pläne des kriegerischen Germanentums. (°! Wo bestehen solche 
Pläne? Red. d. Nordd. Allg. Ztg.) Wie schon früher betont, stört dieser 
Zweck weder die korrekten Beziehungen zu den friedliebenden Elementen 
des deutschen Volkes, noch den vollkommen aufrichtigen Wunsch einer engen 
Annäherung an Oesterreich-Ungarn, als einen halbslavischen und zudem 
für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in Mitteleuropa notwendigen 
Staat. — Die nächste Aufgabe der inneren Politik der Liga ist die Rege- 
lung der slavischen Frage innerhalb der Grenzen Rußlands (der polnischen, 
der kleinrussischen Frage u. s. w.). Die Autonomie Polens unter Bei- 
behaltung vollkommener realer Garantien für die Einheit des Reiches 
ist gegenwärtig der Schlüssel zur Lösung der slavischen Frage. Es ist die 
conditio sine qun non dafür, daß die slavische Idee aus einer theoretischen 
zu einer praktischen wird. — Die erste Aufgabe der äußeren Politik der 
Liga — ist die Anknüpfung regelmäßiger enger Beziehungen zum Slaven- 
tum jenseit der Grenze. Die zweckentsprechendste Form derselben ist — 
eine Zollunion mit den slavischen Balkanländern und mit Oesterreich- 
Ungarn. Die Dogmen der Liga sind 1. Gleichberechtigung der Konfessionen, 
volle Glaubensduldung und Achtung vor der Anhänglichkeit einzelner 
Völker und Personen an ihre Konfession; 2. nationale Gleichberechtigung, 
Duldsamkeit und Achtung den nationalen Bedürfnissen und Rechten der 
einzelnen Völker der slavischen Rasse und ihrer nichtslavischen Nachbarn 
gegenüber; 3. ein demokratisches konstitutionelles Regime in Rußland, ohne 
das es kein Vertrauen bei den auswärtigen Slaven finden kann. Die 
Idee der Slavischen Liga muß ihres friedlichen politischen Zieles wegen 
tief ins Volk eindringen, ähnlich der ihr verwandten Idee des Ssokoltums 
in den westslavischen Ländern oder der polnischen Gesellschaft des Natio- 
nalitätsschutzes, die neulich unter dem Namen Straz in Preußen entstanden 
ist. Die Slavische Liga muß aus mehreren Sektionen bestehen, entsprechend 
den von der Liga verfolgten Aufgaben und den Mitteln zu ihrer Er- 
reichung. Als solche Sektionen sind zunächst folgende drei vorgesehen: 1. die 
Organisationssektion, deren Aufgabe die Propaganda für den Verein und 
die Begründung von Gruppen außerhalb St. Petersburgs ist; 2. die Auf- 
klärungssektion, deren Mitglieder sich damit befassen werden, die Slaven 
mit der Geschichte, Kultur und der gegenwärtigen politischen Lage der ein- 
zelnen slavischen und mit ihnen in Konnex stehenden Völker bekannt zu 
machen; 3. die Verkehrssektion, die für die praktischen Fragen slavischer 
Beziehungen zu sorgen haben wird, wie für die Organisation von Kon- 
gressen, Besuchsfahrten, Ausstellungen, den Nachrichtendienst, die Preß-
	        
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