Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Fas Feutsihe Reich und seine einjeluen Glieder. (März 27. 28./29.) 77 
27. März. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schreibt 
gegen den „Temps“ über die Haltung der deutschen Boischafter: 
„Der „Temps fährt fort, den Gang der Verhandlungen in Algeciras 
zu stören und eine Verständigung zu erschweren. Nach Pariser Privat- 
depeschen heutiger Morgenblätter behauptet der Temps jetzt, auf Weisung 
von Berlin hätten die kaiserlichen Vertreter in London und Washington 
die Legende von der Isolierung Frankreichs verbreitet. Richtig ist ledig- 
lich, daß die kaiserlichen Vertretungen unter dem 12. März von einem Be- 
richt des Botschafters v. Radowitz in Kenntnis gesetzt wurden, wonach der 
Vorschlag des Grafen Welsersheimb eine überwiegend günstige Aufnahme 
gefunden habe und die Mehrheit der Delegierten ihrem französischen Kol- 
legen zu einer Verständigung geraten hätten. Die kaiserlichen Vertreter 
waren angewiesen worden, dies den Kabinetten zur Kenntnis zu bringen 
und auszuführen, daß der Welsersheimbsche Vorschlag eine geeignete Basis 
bilde, um die Konferenz zu einem glücklichen Ende zu bringen und damit 
einer Periode der Beruhigung, der Sicherheit und des wirtschaftlichen Auf- 
schwunges die Wege zu ebnen. Was dagegen der Temps aus der Hal- 
tung und der Sprache der kaiserlichen Vertreter zu machen versucht, steht 
auf der Höhe seiner Behandlung der russischen Instruktion. Wir stellen 
fest, daß der russische Minister des Aeußern und der russische Minister- 
präsident gegenüber dem deutschen Botschafter in St. Petersburg ihr Be- 
dauern über die tendenziös entstellende Veröffentlichung des Temps aus- 
gedrückt haben. Wir stellen weiter fest, daß der russische Botschafter in 
Paris dem Fürsten Radolin gegenüber die Veröffentlichung als eine grobe 
Taktlosigkeit und Verdrehung der Wahrheit gemißbilligt hat.“ 
28./29. März. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Be- 
ratung der Denkschrift der Ansiedlungskommission. 
Abg. v. Dziembowski (Pole): Die praktische Wirkung des Gesetzes 
von 1904 sei, daß der Pole keine Wohnhäuser mehr bauen dürfe; dadurch 
reiße allgemeine Rechtsunsicherheit ein, und die Wohnungsnot für die 
ärmere Bevölkerung steige. Abg. Wolff-Gorki (kons.): Er billige die Re- 
gierungspolitik, halte es aber für ungesetzlich, polnischen Staatsangehörigen 
Preußens die Erwerbung von Funmsele, zu erschweren. Abg. Glatzel 
(nl.) bedauert die gewaltige Steigerung der Preise durch die Ansiedelungs- 
politik. Die Preise sind derartig, und eine solche Steigerung ist schon in 
der Denkschrift von 1902 bemerkt worden, daß ein einwandernder Deutscher 
nicht in der Lage ist, sich anzukaufen. Diese Folgen der Ankaufspolitik 
wollten wir doch nicht erreichen. Wir müssen unsere Ansiedler besser stellen, 
als es die polnischen Kolonisten gewohnt sind, diese sind deshalb eher zu 
haben, weil sie schließlich, wenn sie nicht mehr ein oder aus wissen, einfach 
an die Ansiedelungskommission verkaufen. Durch die Preissteigerung ist 
mancher polnische Grundbesitzer über Wasser gehalten worden, so daß er 
jetzt nicht mehr zu verkaufen braucht. Die Entschuldung der Kolonisten 
muß zielbewußt vorgenommen werden. Abg. Kindler (fr. Vp.): Das An- 
siedelungsgesetz von 1904 hat die Polen noch gestärkt. Die deutschen Ge- 
schäftsleute nehmen alle zweisprachige junge Leute auf, weil sie die polnische 
Kundschaft nicht verlieren wollen. Man kann doch den deutschen Kauf- 
leuten nicht verbieten, an Polen zu verkaufen. Die zweisprachigen jungen 
Leute sind aber nur unter den Polen zu finden. Auf diese Weise wird 
gerade ein neuer polnischer Mittelstand herangezogen. Es gibt auch pol- 
nische Familien, die germanisiert worden sind, ich nenne nur Namen wie 
Radziwill, Podbielsky, Posadowski (Heiterkeit). Die Polen sind gerade
	        
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