Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

78 Das Fenische Reiqh und seine einzeluen Glieder. (März.) 
wegen ihrer Zweisprachigkeit den Deutschen überlegen. Man kann im 
nationalen Interesse den Deutschen nur zurufen: „Lernt polnisch, dann 
werdet ihr konkurrenzfähig bleiben, und dann bleibt in der Provinz.“ Die 
politische Klugheit hätte davor bewahren müssen, daß im vorigen Jahre die 
Verfügung erlassen wurde, daß die Beamten ihre Ersparnisse aus den pol- 
nischen Sparkassen herausnehmen sollten. 80000 Mark wurden zurück- 
gezogen, aber 800000 Mark von den Polen neu eingezahlt, die die Polen 
den Kreissparkassen entnahmen. 
29. März. Abg. Frhr. v. Zedlitz (frk.): Wenn wir auch Freunde 
der Ostmarkenpolitik sind, so sind wir doch nicht blind gegen die Fehler, 
die gemacht worden sind. Eine Hauptgquelle der Fehler ihrer Politik scheint 
mir die überaus große Nervosität zu sein, die von oben bis unten herab 
in den Regierungskreisen Platz gegriffen hat, und die die unwesentlichsten 
Dinge zu den wichtigsten Staatsaktionen aufbauscht. Dazu kommt eine 
überaus große Schneidigkeit der Beamten, die sich leider auch in kleinlichen 
Maßnahmen gegen die polnische Bevölkerung äußert. Natürlich verkenne 
ich nicht, daß die Tätigkeit der Ansiedelungskommission nicht nur in volks- 
wirtschaftlicher und kultureller Beziehung, sondern vor allem auch vom 
nationalen Standpunkt aus von allergrößter Bedeutung ist. Bis jetzt hat 
sie 80000 Deutsche in den Ostmarken angesiedelt, aber die Ansiedelungs- 
kommission leidet an einer zu großen Vielgestaltigkeit, dem Bureaukratis= 
mus und zu raschem Wechsel der Beamten, welch letzterer Umstand eine 
ersprießliche Tätigkeit der Ansiedelungskommission erschwert. Die Frage ist 
wohl erwägenswert, ob es nicht möglich ist, mehr Arbeiter nach den Ost- 
marken zu ziehen, etwa durch Gewährung von Prämien für solche Arbeiter, 
die sich dort seßhaft machen, denn ohne einen ausreichenden Stamm von 
deutschen Arbeitern kann sich der deutsche Großgrundbesitz und der deutsche 
Bauernstand in diesen Gegenden mit zweisprachiger Bevölkerung nicht 
halten. Abg. Abramski (83.): Die Polenpolitik habe die Oberschlesier, die 
gute Patrioten gewesen seien, zu fanatischen Polen gemacht. Aber wenn 
die Politik der Nadelstiche aufhöre, werde der Oberschlesier wieder Ver- 
trauen zur Regierung gewinnen. 
März. Krisengerüchte. 
In der Presse wird von einer Kanzlerkrisis gesprochen, die mit der 
Umwandlung des Kolonialamts zusammenhinge. Am 29. März schreibt die 
„Nordd. Allg. Ztg.“ hierüber: Es ist nicht nötig, alle Einzelheiten dieser 
auf ganz willkürlichen und falschen Voraussetzungen fußenden Angaben zu 
widerlegen. Wir begnügen uns, zwei Behauptungen herauszugreifen. In 
der Deutschen Reichzeitung lesen wir unter dem 27. dieses Monats: „Wir 
waren in der Lage, zuerst mitzuteilen, daß der Kaiser zum Fürsten Bülow 
geäußert hat, er möge nur selbst auch abtreten, wenn er nicht die Schaffung 
eines selbständigen Reichskolonialamtes erreiche. Diese Aeußerung ist 
authentisch.“ Diese Aeußerung ist im Gegenteil frei erfunden. Der Reichs- 
kanzler hat aus dem Munde Sr. Majestät nie derartiges gehört. In dem- 
selben Artikel heißt es weiter unten wie folgt: „Als der Erbprinz Ernst 
von seiner Regentschaft frei wurde, sagte der Kaiser zum Reichskanzler: 
Erno erziehen wir uns als künftigen Reichskanzler." Auch hier handelt es 
sich um eine Erfindung, die aus völliger Unkenntnis der in Frage kom- 
menden Verhältnisse und Personen hervorgegangen ist. Wir hoffen, daß 
diese Feststellungen dazu beitragen, alle politisch ernsten Blätter von der 
Beteiligung an dem Unfug abzuhalten, der mit sogenannten Krisengerüchten 
getrieben wird.
	        
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