Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

92 Das Deutsqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (März 11.) 
schädigungen, weder territoriale, noch politische, noch wirtschaftliche, damit 
wird aber die bedenkliche Seite nicht ausgeschaltet, der Versuch Oesterreich- 
Ungarn vor ein Tribunal zu ziehen, dessen Spruch es nur unter ganz be- 
stimmten Vorbedingungen dulden und anerkennen will. 
Man erinnert sich, daß die serbische Skupschtina auf Veranlassung 
des jetzigen Ministerpräsidenten wie des damaligen und jetzigen Ministers 
des Aeußern einem Beschlußantrag zustimmte, der die Autonomie Bosniens 
und der Herzegowina unter Gewähr Europas und eine Landverbindung 
zwischen Serbien und Montenegro verlangte. Diese Forderung ist seitdem 
das Programm der serbischen Politik geblieben, und wenn Serbien jetzt 
darauf verzichtet, seine Erfüllung von Oesterreich-Ungarn zu beanspruchen, 
so wendet es sich dagegen an die Signatarmächte des Berliner Friedens 
und vermag nun den Satz der russischen Ratschläge anzuführen, „daß die 
Mächte dann alle ihre Mühe zugunsten der serbischen Interessen verwenden 
können“. Oesterreich-Ungarn hat rundweg erklärt, die Angliederung 
Bosniens und der Herzegowina sei eine Tatsache, die nur zwischen ihm 
und dem nominellen Eigentümer der okkupierten Provinzen erörtert werden 
könne, und durch das Abkommen mit der Pforte ist zwischen den beiden 
Beteiligten ein Austausch erfolgt, den eine europäische Konferenz nach der 
Wiener Ansicht vielleicht in die Kodifizierung des Völkerrechts aufnehmen, 
aber nicht mehr beraten und entscheiden kann. Von diesem Standpunkt 
wird Frhr. v. Aehrenthal schwerlich abgehen, nud man sieht keinen Weg, 
wie die serbischen Ansprüche oder Interessen, um diesen Ausdruck zu ge- 
brauchen, erfüllt werden können, solange sie eine Verminderung der Hoheits- 
rechte wie des neu erworbenen Gebiets Oesterreich-Ungarns in sich schließen. 
Wie Serbien sich zu seinem Nachbar stellen wird, läßt sich erst erkennen, 
wenn es auf die Note geantwortet hat, die Graf Forgach vor wenigen 
Tagen in Belgrad überreichte, und in der ein klarer unzweideutiger Be- 
scheid über die künftige Haltung des Königreichs zu Oesterreich-Ungarn 
als Voraussetzung zu etwaigen wirtschaftlichen Verhandlungen verlangt wird. 
11. März. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Der Gesetz- 
entwurf auf Heranziehung der Beamten, Elementarlehrer und 
unteren Kirchendiener zur Gemeinde-Einkommensteuer wird in 
dritter Lesung gegen die Stimmen der Freisinnigen und Sozial- 
demokraten angenommen. 
Bei der dritten Beratung des Gesetzentwurfes zur Abände- 
rung des Einkommensteuer= und Ergänzungssteuergesetzes erwidert 
Finanzminister Freiherr v. Rheinbaben auf die Bemerkungen Pro- 
fessor Delbrücks über Steuerhinterziehungen der Landwirte: 
Ich hätte nicht Veranlassung genommen, zu den Ausführungen des 
Abg. Heimann, die nicht viel Neues brachten, das Wort zu nehmen, wenn 
er nicht auf einen Zeitungsartikel Bezug genommen hätte, der vor einiger 
Zeit erschienen war. Er hat die Berichtigung, die ich habe abdrucken 
lassen, offenbar noch nicht gelesen. Dadurch ist ein Teil seiner Aus- 
führungen widerlegt. In einem Artikel hat Professor Delbrück die Be- 
hauptung aufgestellt, daß nicht weniger als 66 Milliarden sich der Ver- 
steuerung entziehen, und daß die Veranlagungskommission, d. h. die Land- 
räte, in bewußter Weise an der mangelhaften Heranziehung mitarbeiten. 
Ich habe es für meine Pflicht erachtet, das klarzustellen und die Landräte 
gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen. In jenem Artikel ist über-
	        
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