Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Veische Reich und seine eintelnen Glieder. (April 30.)) 159 
Satz auf: Sparkassen und Staatsschuldbuch dürfen nicht mehr böswilligen 
Steuerzahlern das Mittel geben, Einkommen aus Kapitalvermögen geheim 
v1 halten; sie müssen wie andere Behörden in Steuersachen Auskunft geben. 
benso muß die Zeugnispflicht der Banken zweifelsfrei gestellt werden. 
30. April. (Reichstag.) Nationalliberale Anträge über 
Kanzlerverantwortlichkeit. 
Die nationalliberalen Abgeordneten Dr. Junck-Linck, Detto und 
Neuner legen der Reichstagskommission zwei Anträge vor, von denen der 
eine den Artikel 17 der Reichsverfassung so abändert, daß ausdrücklich 
gesagt wird: „Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckt sich auf 
die gesamte Regierungstätigkeit des Kaisers. In einem besonderen Gesetz 
wird geregelt, in welchem Umfang und in welchem Verfahren die Verant- 
wortlichkeit des Reichskanzlers durch Anklage vor einem Staatsgerichts- 
hof geltend gemacht werden kann.“ 
Der zweite Antrag betreffend den Staatsgerichtshof hat folgenden 
Wortlaut: Art. 1: Der Reichstag hat das Recht, den Reichskanzler durch 
Anklage vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zur Verant- 
wortung zu ziehen, wenn durch seine Schuld ein Reichsgesetz verletzt oder 
die Sicherheit oder die Wohlfahrt des Reiches schwer gefährdet worden ist. 
Die Anklage ist auch zulässig gegen die Stellvertreter des Reichskanzlers 
im Sinne des Reichsgesetzes vom 17. März 1878. — Art. 2: Ein Antrag, 
welcher auf Erhebung der Anklage gegen den Reichskanzler oder seine 
Stellvertreter gerichtet ist, hat die Tatsachen, auf welche er gestützt wird, 
genau zu bezeichnen. Er muß schriftlich beim Präsidenten des Reichstages 
eingereicht werden und von mindestens 100 Mitgliedern des Reichstages 
eigenhändig unterzeichnet sein. — Art. 3: Der Präsident hat den Antrag 
binnen einer Woche nach seiner Einreichung auf die Tagesordnung zu 
setzen. Die Verhandlung hat sich darauf zu beschränken, ob der Reichstag 
zur Tagesordnung übergehen oder den Antrag an eine Kommission zur 
orberatung überweisen wolle. — Art. 4: Auf Grund des von der Kom- 
mission erstatteten Berichts beschließt der Reichstag, ob die Anklage erhoben 
werden soll. Zur Erhebung der Anklage ist die Zustimmung der Mehrheit 
der gesetzlichen Mitgliederzahl erforderlich. — Art. 5: Der Präsident des 
Reichstags hat den Anklagebeschluß dem Vorsitzenden des Staatsgerichts- 
hofes (Art. 8) mit der Aufforderung mitzuteilen, die Mitglieder desselben 
sofort zur Verhandlung und Entscheidung über die Anklage einzuberufen. — 
Art. 6: Der Reichstag hat einen oder mehrere Vertreter der Anklage vor 
dem Staatsgerichtshof zu bestellen. Mitglieder des Reichstags sind als 
Vertreter der Anklage zugelassen. — Art. 7: Zur Verhandlung und Ent- 
scheidung über die Anklage wird ein Staatsgerichtshof für das Deutsche 
Reich am Reichsgericht zu Leipzig errichtet. — Art. 8: Der Staatsgerichts- 
hof besteht aus dem Präsidenten des Reichsgerichts oder seinem Stell- 
vertreter als Vorsitzendem sowie 14 Beisitzern. Der Vorsitzende bestellt 
die nötigen Gerichtsschreiber und Zustellungsbeamten aus der Zahl der 
beim Reichsgericht angestellten Beamten. — Art. 9: Der Reichstag be- 
stimmt bei Beginn jeder Legislaturperiode zwei Senate des Reichsgerichts, 
deren jeweilige Mitglieder als Beisitzer des Staatsgerichtshofs berufen 
sind. — Art. 10: Der Staatsgerichtshof hat aus seiner Mitte einen oder 
mehrere Untersuchungsrichter zu wählen, denen alle Befugnisse zustehen, 
die im ordentlichen Strafverfahren einem Untersuchungsrichter zukommen. 
Beamte sind bei ihrer Vernehmung von der Pflicht der Amtsverschwiegen- 
heit entbunden. Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten oder andern 
in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken darf auch im Falle
	        
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