Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Denisqe Reiq und seine eimelnen Glieder. (Mai 1./2.) 163 
heit geforderte unaufschiebbare Notwendigkeit bedeutet, ist troz immer 
wiederholter Anläufe und Versuche während der letzten sechs Monate im 
Parlament nicht weiter gekommen. Im Ganzen genommen sind wir nicht 
wesentlich weiter als zu Anfang November. Der Sommer steht vor der 
Tür. Die Reform muß jetzt erledigt werden. Das Volk verlangt es vom 
Reichstag. Das Ausland blickt mit Spannung auf uns. Die alsbaldige 
Erledigung ist zu einer nationalen Ehrensache geworden. Entzieht sich 
die Mehrheit des Reichstages dieser Aufgabe, so sind die Folgen un- 
berechenbar.“ 
Die Freisinnige Bolkspartei veröffentlicht nachstehenden Auf- 
ruf: „Ernste Entscheidungen stehen bevor. Die Steuerkommission des 
Reichstages hat die Anträge auf Ausbau der Erbschaftsbesteuerung erneut 
abgelehnt. Namens der verbündeten Regierungen ist die Erklärung ab- 
gegeben, daß die Reichsfinanzreform ohne eine ausreichende Erbschafts- 
besteuerung nicht zustande kommen kann. Die Konservativen haben im 
Bunde mit dem Zentrum und den Polen alle Anträge der liberalen Parteien 
zu Fall gebracht, die eine gerechte und gleichmäßige Heranziehung des 
Besitzes erstreben. Die weitere Entwickelung führt zu schweren Kämpfen, 
vielleicht zur Auflösung des Reichstages. Wir empfehlen, auf den bevor- 
stehenden Parteitagen und in den sonstigen Parteiversammlungen in Ein- 
klang mit der Haltung der Reichstagsfraktion einmütig und entschieden 
zum Ausdruck zu bringen, daß die Freisinnige Bolkspartei für eine baldige 
und gründliche Reform der Reichsfinanzen eintritt und zur Mitarbeit 
bereit ist, daß sie aber eine ausreichende Besitzbelastung durch den Aus- 
bau der Erbschaftsbesteuerung als unabweisbare Vorbedingung für das 
Zustandekommen der Reform erachtet und jeden Versuch, bei der Reichs- 
finan zreform agrarische Sonderinteressen zur Geltung zu bringen, als 
eine Gefährdung des für die Zukunft des Reiches entscheidenden Werkes 
zurückweist.“ 
Der weitere Vorstand (Fünfziger Ausschuß) der konservativen 
Partei veröffentlicht folgenden Aufruf: „An unsere Freunde im Lande! 
Die gesamte konservative Partei im Deutschen Reich war von Anfan an 
darin einig und ist es auch heute noch, daß das große nationale Werk der 
Reichsfinanzreform auf dem unseres Vaterlandes finanzieller und politischer 
Bestand beruht, in den Grenzen und Formen zustande gebracht werden 
muß, die mit unsern wirtschaftlichen Lebensinteressen, der finanziellen Selb- 
ständigkeit der Einzelstaaten und unsern Grundsätzen nur irgend vereinbar 
sind. Demgemäß haben unsere berufenen Vertreter im Parlament auch 
gehandelt. Sie haben allen Steuervorschlägen der verbündeten Regierungen, 
so tief sie zum Teil einschneiden in die Erbwerbsinteressen der von uns 
vertretenen Bevölkerung, zugestimmt, ohne irgend eine Klasse zu bevorzugen. 
Nur in einem Punkt wünschten wir Abweichendes: eine Ausdehnung der 
Erbschaftsbesteuerung auf Kinder und Ehegatten, wie sie von den ver- 
bündeten Regierungen geplant ist, müssen wir gemäß oft gefaßten Be- 
schlüssen ablehnen, weil sie eine VBermögensbesteuerung, deren Steigerung 
und Ausbau mit Sicherheit in der Zukunft zu erwarten ist, im schwersten 
wirtschaftlichen Momente darstellt, weil sie geeignet ist, den Sinn für Er- 
haltung des Besitzes, den Erwerbs= und Spartrieb der für die Zukunft 
der Familie sorgenden Bevölkerung zu beeinträchtigen, weil sie offenbar 
Bevorzugungen des beweglichen Vermögens mit sich führt und weil sie 
endlich zur Hebung kommt gegenüber Personen, die ihrer Natur nach 
weniger fähig sind, ihre berechtigten Interessen gegenüber der fordernden 
Behörde wahrzunehmen. Unsere parlamentarischen Vertreter haben vollen 
Ersatz für eine solche Steuer durch andere, vorzugsweise den Besitz treffende 
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