Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

178 D Vesche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 23.) 
unsere Reserveformationen ruhen noch in den Kinderschuhen. Wie recht 
wir in unserer Berechnung hatten, möchte ich an einem Beispiel erläutern, 
welches sich in der jüngsten Woche abgespielt hat. Unsere heimische Schlacht- 
flotte, die in der Nordsee bei Helgoland übt, setzt sich zusammen aus 
16 Lmienschiffen, denen 3 Panzerkreuzer und 5 kleine Kreuzer angegliedert 
sind. Englands Flotte, die vor auch nicht langer Zeit in der Nordsee 
geübt hat, setzt sich zusammen aus 30 Panzerschiffen, denen 24 Panzer- 
reuzer und 39 kleine Kreuzer zugeteilt sind. Meine Herren, das gibt in 
doppelter Beziehung zu denken, zunächst was die Panzerkreuzer anbetrifft, 
so handelt es sich um ein Verhältnis von 1:8, 3:24, und wenn wir die 
Zahl der Linienschiffe berücksichtigen um ein Verhältnis 1:4. Wir dürfen 
ja dabei berücksichtigen, daß England, die gewaltige Seemacht, die die 
Herrschaft auf den Ozeanen hat, zur Erfüllung ihrer Aufgabe einer grö- 
ßeren Zahl von Kreuzern bedarf als wir, die wir uns mit einem beschei- 
deneren Maße von Seegeltung zu begnügen haben. Aber dieses Verhält- 
nis von 1:4 scheint mir doch nicht das richtige zu sein. Entweder hat 
England zu viel Panzerkreuzer, oder wir zu wenig; das erstere glaube ich 
nicht, ergo haben wir nach meiner Ansicht zu wenig Panzerkreuzer. Der 
zweite Punkt sind die Uebungen der englischen Nordseeflotte in der Nord- 
see. Wir können es England nach keiner Richtung verdenken, daß es 
ebensogut wie wir seine Uebungen in der Nordsee anstellt; es wäre sogar 
nicht richtig, wenn es das nicht täte, aber es ist doch immerhin für uns 
eine neue Erscheinung. Während wir noch bis vor zwei Jahren immer 
von den Manövern der Engländer in Lagos gelesen haben, von den 
Uebungen, die sie über den Atlantik gemacht, ist die Basis der englischen 
Seemanöver uns doch sehr viel näher gerückt worden und, meine Herren, 
unwillkürlich bei dem heutigen Stand der Dinge gibt das doch jedenfalls 
zu denken Anlaß und darf nicht außer Berücksichtigung gelassen werden. 
Wir dürfen deshalb die Hoffnung aussprechen, daß die Marineverwaltung, 
wenn auch das Bauprogramm unserer Schiffe für die nächsten Jahre fest- 
gelegt ist, die Dringlichkeit dieser Frage anerkenne und sobald sich irgend 
die Gelegenheit bietet, Abhilfe schaffen wird. Wir möchten weiter die Er- 
wartung aussprechen, daß mit der Zahl unserer Mannschaften energisch 
vorgegangen werden möchte, damit die neu hinzutretenden Schiffe voll- 
bemannt, unsere Reserveformationen auf die nötige Höhe gebracht und 
das sehnlichst erhoffte siebzehnte Linienschiff unserer Schlachtflotte zugeführt 
werden möge. Ich möchte noch mit einigen Worten meinen Standpunkt 
zu den Reserveformationen hier klar legen. Ich bin der Ansicht, daß in 
diesen Reserveformationen nur vollwertige Schiffe Verwendung finden sollten, 
und daß, wenn die Marineverwaltung der Ansicht sein sollte, daß Schiffe, 
die noch nicht die Altersgrenze erreicht haben, aber trotzdem nicht mehr 
voll den jetzigen Ansprüchen genügen, einfach zurückgestellt werden, so möchte 
ich sagen, daß unsere Schiffe der Siegfriedklasse eventuell der lokalen Ver- 
teidigung in der Elbe zugeteilt werden. Jedenfalls halte ich die Schiffe der 
Kaiserklasse geeigneter für die Reserveformation als die der Siegfriedklasse. 
Großadmiral v. Koester erklärt dann, die Vereinsleitung stehe auf 
dem Standpunkte, daß keine Auslandsmacht sich um den inneren Ausbau 
unserer Flotte zu kümmern habe. (Lebhafter Beifall.) Er sagt: Wir 
halten eine Limitierung unserer Flottenrüstungen für absurd, ja unter 
Umständen höchst gefährlich (Beifall), denn sie könnte den Keim zu ernsten 
Differenzen herbeiführen. Nach wie vor stehen wir auf dem Standpunkt, 
daß unsere Flotte unseren Seeinteressen, die sich glücklicherweise von Jahr 
zu Jahr mehren, dienen soll, und daß wir unsere Flotte bauen gegen jeden, 
der gewillt ist, uns in unserer Friedensentwickelung, die wir ersehnen, zu
	        
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