Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

186 Das Detsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 29.) 
hinter den Erwartungen zurückbleibt, doch immerhin eine brauchbare Grund- 
lage für die Durchsetzung der Finanzreform bedeutet, ist auf dem Gebiete 
der Besitzsteuern ein solches Ergebnis nicht zu verzeichnen. Gegen die von 
der Kommission auch in zweiter und dritter Lesung bestätigten Beschlüsse 
auf Einführung einer sogenannten Kotierungssteuer, sowie einer Reichs- 
umsatzsteuer von Grundstücken und einer Reichswertzuwachssteuer bestehen, 
vom wirtschaftlichen Standpunkte aus, so starke Bedenken, daß nicht anzu- 
nehmen ist, sie würden Gesetz werden. Vom Standpunkt der Reichsfinanzen 
liegt überdies ein gewichtiges Bedenken auch darin, daß die Ertragsberech- 
nung dieser Vorschläge auf völlig schwankenden Füßen steht. Hinsichtlich 
des Ertrages der Kotierungssteuer fehlt es an den wichtigsten Grundlagen, 
da sowohl über die tatsächlich in Deutschland gehandelten ausländischen 
Wertpapiere, wie auch über den Kurswert der in Deutschland umlaufenden 
enaue Berechnungen nicht vorliegen. Dasselbe gilt von der Wertzuwachs- 
Reuer auf Immobilien. Wie von Sachverständigen allgemein zugegeben 
wird, liegt bisher auch nicht die geringste Möglichkeit vor, eine einiger- 
maßen zuverlässige Ertragsberechnung aufzustellen. Die verbündeten Re- 
gierungen haben es zu Beginn der Finanzreform als den Leitsatz ihres 
Programms aufgestellt, daß neben einer energischen Besteuerung der Genuß- 
mittel der Allgemeinheit auch der allgemeine Besitz zu den Reichslasten in 
angemessener Weise herangezogen werden müsse; sie haben zu diesem Zwecke 
eine Besteuerung der Erbschaften vorgeschlagen und sind nach wie vor der 
Meinung, daß dies die geeignetste Besitzabgabe ist, die für das Reich in 
Frage kommt. — Ein Teil der Presse hat über die Haltung des Reichs- 
kanzlers in diesen Fragen gänzlich unbegründete Anschauungen entwickelt. 
Der Reichskanzler war in den letzten Wochen fortgesetzt mit Verhandlungen 
über die Finanzreform beschäftigt. Er hat nichts unversucht gelassen, um 
eine Einigung zwischen der Rechten und der Linken herbeizuführen. Seine 
Stellungnahme zu den einzelnen Teilen der Finanzreform ist so häufig 
und so nachdrücklich dargelegt worden, daß eine neue Kundgebung in diesem 
Sinne wohl kaum nötig sein sollte. Auch die Vorgänge in der Kommission, 
die er auf das lebhafteste bedauert, können ihn keineswegs zu einer Aen- 
derung seiner ganzen bisherigen Haltung bewegen. Der Reichskanzler 
wird, wie wir hören, die nächste Gelegenheit im Reichstage benutzen, um 
seine Stellung vor dem Lande klarzulegen. 
29. Mai. (Reichstag.) Ueber die Vorgänge in der Finanz- 
kommission am 27. Mai gibt die „Kölnische Zeitung“ folgenden 
Bericht: 
Zu Beginn der Sitzung gab der Vorsitzende Frhr. v. Richthofen eine 
Erklärung ab. Er habe den Vorsitz übernommen im Interesse der För- 
derung der Finanzreform und im nationalen Interesse. Er sei jederzeit 
bestrebt gewesen, die ihm gestellte Aufgabe so rasch wie möglich zu lösen 
und glaubte damit im Sinne aller Parteien gehandelt zu haben, die alle 
den Wunsch hätten, die Sache so rasch wie möglich ans Plenum zu bringen. 
Mit dieser Erklärung wolle er allen Mißdeutungen, die etwa in der Presse 
laut werden könnten, begegnen. Darauf wurde in die Beratung der 
Mühlenumsatzsteuer eingetreten. Zunächst begründete Roesicke (konfs.) 
die Einbringung der Mühlenumsatzsteuer mit einem zu erwartenden Er- 
gebnis von 12¼ Millionen, ohne daß der Konsum belastet würde. Frhr. 
v. Gamp (Rp.) erklärte die Aufnahme dieser Steuer in das Finanzgesetz 
für geschäftsordnungswidrig. Staatssekretär Sydow schloß sich dem an 
und bezifferte den Ertrag auf höchstens 8 Millionen; er erhebe gegen die
	        
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