Das Dertsqhe Reich und seine eimeluen Glieder. (Juni 12.) 199
Der Vorsitzende des Zentralverbandes deutscher Industrieller, Land-
rat a. D. Roetger, Präsident des Direktoriums Friedrich Krupp (Essen),
eröffnete die Versammlung mit dem Hinweise, daß bei der Stellungnahme
ur Reichsfinanzreform die großen Interessenverbände des Handels und der
Industrie nebeneinander hergegangen sind ohne Fühlung. Infolgedessen waren
die bedrohten Interessen nicht ausreichend gewahrt. In dieser Erkenntnis,
und da die Dinge auf einem Punkte angekommen sind, wo alles die großen
Erwerbsstände in Industrie, Handel und Bankwelt sonst Trennende in
den Hintergrund treten mußte gegenüber den großen nationalen Fragen,
reichen sich die Inbustrie und die Bankwelt die Hände zu gemeinsamem
Vorgehen. Die Versammlung wählte hierauf zum Präsidenten den Vor-
sitzenden des Zentralverbandes des deutschen Bank= und Bankiergewerbes
Geheimrat Dr. Riesser. Der Vorsitzende schlug zunächst die Absendung
folgenden Telegrammes an den Kaiser vor: „Die heute im Zirkus
Schumann in Berlin behufs Stellungnahme zur Reichsfinanzreform ver-
sammelten über 6000 VBertreter von Handel und Industrie aus allen Gauen
des deutschen Vaterlandes, welche in der Ueberzeugung einig sind, daß
jeder Stand ohne Unterschied verpflichtet ist, die für die Finanzreform er-
forderlichen, seine Existenzfähigkeit nicht bedrohenden Lasten und Steuern
8 übernehmen, bitten ehrfurchtsvoll bei Beginn ihrer Verhandlungen
w. Kaiserlichen und Königlichen Majestät als dem Schirmherrn freier
Bewegung und gleicher Berechtigung aller Stände und Berufe des Bater-
landes das Gelübde unwandelbarer Treue aussprechen zu dürfen.“ Mit
stürmischem Beifall bekundete die Versammlung ihre Zustimmung.
Hierauf wandte sich Dr. Riesser an die Versammlung: In schwerer
Stunde sind mehr als 6000 Vertreter jener Stände versammelt, denen der
wirtschaftliche Aufschwung der letzten Dezennien in erster Linie zu danken
ist, deren Energie der rapid zunehmenden Bevölkerung Nahrung und Be-
schäftigung verschaffte, wo hierzu die Kraft der Landwirtschaft versagte.
Ihre Arbeit, die nicht weniger staatserhaltend als die der Landwirtschaft
ist, hat den Wohlstand der Nation, deren Kraft in guten, ihre Wider-
standsfähigkeit in schlechten Zeiten erhöht und unser Staatswesen in die
Lage versetzt, sich immer größeren Aufgaben widmen zu können. Bei
diesem Sturmlauf, sich selbst und das Vaterland vorwärts zu bringen,
haben sie keine Zeit gefunden, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu
kümmern, und haben wie unbeteiligt zugesehen der notwendigen Kon-
sequenz ihrer eigenen Erfolge, nämlich dem Kampf zwischen dem immobilen
und dem mobilen Kapital. Dieser grenzenlosen bedauernswerten politischen
Apathie ist das seltsame Schauspiel zu verdanken, daß die Landwirtschaft,
die bis in die neuere Zeit nicht nur politisch und wirtschaftlich die Vor-
hand hatte, auch die politische Macht zu behalten und zu erweitern wußte,
als sie längst die wirtschaftliche Vorherrschaft an den Handel und die
Industrie abgeben mußte. Sie nützte diese politische Vorherrschaft auf das
äußerste aus, und nie wurde die Gesetzgebung früher so dauernd und kräftig
zur Schaffung von Privilegien, Subventionen und Liebesgaben, die die
übrigen Stände aufbringen, benützt.
Hieran schloß sich die Ansprache des Handelskammerpräsidenten
Max Schinckel (Hamburg), der in seinem Vortrage darauf hinwies, daß
es wünschenswert erscheine, sich mehr als bisher auf Parteipolitik zu ver-
stehen. Der Redner verurteilte den Verrat der Konservativen, die zum
Feinde übergingen.
Sodann erörterte der Bizepräsident der Berliner Handelskammer,
Generalkonsul Franz v. Mendelssohn, die vielfachen, in jeder Gestalt
schädlichen Wirkungen einer Besteuerung von Wertpapieren. In Beschlüssen