Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

200 Jas euie Neich und seine eistelurn Elieder. (Juni 12.) 
der Finanzkommission lebten alle überwunden gehofften Vorurteile auf, die 
jemals gegen Bank und Börse gefaßt wurden. Man müsse anerkennen, 
daß, wenn man den Besitz an ausländischen Wertpapieren Deutschlands 
unterbinden will, man hierzu ein tauglicheres Mittel als die beschlossene 
Kotierungssteuer nicht wählen könnte. Für die deutsche Börse wäre der 
Fortfall des Geschäftes in ausländischen Werten die Ausschaltung des Ein- 
flusses auf den Weltmarkt. Die Beteiligung der deutschen Emissionshäuser 
an den internationalen Finanzgeschäften würde aufhören, das deutsche Bank- 
vermittlungsgewerbe würde die bisher an den Umsätzen solider ausländischer 
Effekten erzielten Verdienste verlieren, zur Freude ausländischer Bankiers. 
Der folgende Redner, Geheimer Kommerzienrat Emil Kirdorf, 
Generaldirektor des größten deutschen Montantrustes, der Gelsenkirchener 
Bergwerksaktiengesellschaft. äußerte zunächst seine Befriedigung über das 
gemeinsame Vorgehen zur Abwehr unwirtschaftlicher Belastungen. Er er- 
örterte an der Hand ziffernmäßiger Belege, wie die Industrie in bedenklich 
steigendem Maße durch die unmittelbaren Lasten in Anspruch genommen 
würde. Während die Gesamtlasten seiner Gesellschaft an Steuern und nach 
der sozialen Gesetzgebung vom Jahre 1873 nur 4.63 Prozent des Rein- 
gewinnes erforderten, stieg der Prozentsatz im Jahre 1908 auf 54,18 Prozent. 
Er warnt eindringlichst vor einer weiteren Belastung der wirtschaftlichen 
Betriebe und beleuchtet alsdann die großen Schädigungen aus einem even- 
tuellen Kohlenausfuhrzoll, dem sichtlich ein großer Teil der Zechen erliegen 
müsse, wodurch eine weitgreifende wirtschaftliche Notlage entstehen könnte. 
Durch eine unbedachte, den wirtschaftlichen Verhältnissen nicht Rechnung 
tragende Steuerpolitik werde man die Quellen zum Versiegen bringen, aus 
denen der Staat und die Gemeinden die größten Einnahmen zogen. 
Der Präsident des Deutschen Handelstages und des Aelltestenkol- 
legiums der Berliner Kaufmannschaft und Vizepräsident des Reichstages, 
Kämpf, betonte, Deutschland sei nicht nur im Begriffe, ein Handels= und 
Industriestaat zu werden, sondern sei es schon längst geworden. Regiert 
aber werde in Deutschland nach Gesetzen, in denen Anschauungen zum 
Ausdruck kommen, die dem alten Agrar= und Polizeistaate entstammen, 
der kein Verständnis für die Bedürfnisse des Handels und der Industrie 
hat. Die Bedeutung der heutigen Bewegung gehe weit über die Frage 
der einzelnen Steuervorschläge hinaus. Es trete ein gewaltiges Ringen 
zweier Weltanschauungen, der alten agrarischen, die ihren Einfluß aufrecht- 
erhalten wolle und dazu auch die Steuergesetzgebung benützt, und der 
modernen Weltanschauung zutage, die in dem Aufschwung der gewerblichen 
Tätigkeit und der freien Verkehrsentwickelung die wichtigste Stütze des 
Gedeihens der Gesamtheit erblickt. Weitblickende Staatsmänner dürfen 
nur einer Finanzreform zustimmen, die gleichzeitig den Boden für einen 
neuen Ausschwung von Handel und Industrie ebne. Jede andere Finanz- 
reform sei ein trauriges Flickwerk. 
Darauf wird zunächst der folgende erste Teil einer Resolution 
verlesen: 1. Wie bereits in vielfachen Versammlungen der hier vertretenen 
Berbände und Korporationen deutlich zum Ausdruck gekommen ist, erblickt 
auch die heutige Versammlung in der Durchführung der Reichsfinanzreform 
die derzeit dringendste Aufgabe der deutschen Gesetzgebung und hält eine 
Huausschikung ihrer Erledigung ohne erhebliche Beeinträchtigung des 
nanziellen Kredits und damit der wirtschaftlichen Macht des Reiches nicht 
für möglich. Sie legt jedoch einmütig entschiedene Verwahrung ein gegen 
das von der Finanzkommission des Reichstags angenommene Steuer- 
programm, welches durchweg und unverhüllt das Bestreben zeigt, Gewerbe, 
Handel und Industrie zum Nachteile der gesamten Volkswirtschaft einseitig
	        
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