Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Denisqe Reit und seine einjelnen Glieder. (Juni 16.) 209 
wird einen tiefen Eindruck machen auf das deutsche Bolk. (Sehr richtig!) 
Es können dadurch Widerstände und Gegensätze gegen die konservative 
Partei hervorgerufen und gesammelt werden, es kann dadurch ein Weg 
eröffnet werden, den zu begünstigen weder Sie noch ich vor der Zukunft 
verantworten können. Man hat den Gedanken einer Annäherung der 
Konservativen und Liberalen, eines Zusammenwirkens der Konservativen 
und Liberalen als eine vorübergehende parlamentarische Konstellation 
hingestellt. Erst gestern habe ich einen in diesem Sinne gehaltenen Artikel 
gelesen. Ich glaube, daß die Geschichte in diesem Gedanken mehr sehen 
wird. Je weiter man sich von einem Gebirge entfernt, um so deutlicher 
tritt der Gebirgszug hervor, und so wird auch die künftige Perspektive 
erst von der genannten Konstellation, von dieser Politik, das richtige Bild 
haben. Die Regierung hat durch die konservativ-liberale Konstellation sich 
nicht nur die Mitarbeit der Liberalen und Konservativen sichern, sondern 
sie hat auch dadurch Gegensätzen und Kämpfen vorbeugen wollen, die das 
zukünftige politische Leben Deutschlands ungünstig beeinflussen können. 
Daß das ein staatsmännischer Gedanke war, wird die Zukunft einsehen 
und die Geschichte anerkennen, gleichviel, ob der Träger dieses Gedankens 
früher oder später von seinem Platze abtreten wird. (Bewegung.) Im 
einzelnen will ich bei den heute zur Debatte stehenden Gegenständen den 
Herren Ressortchefs und den übrigen Sachverständigen das Wort über- 
lassen. Als Folgerungen meiner Ausführungen und in Konseauenz der 
Auffassung, die ich bei allen Verhandlungen über die Reichsfinanzreform 
von Anfang an festgehalten habe, will ich nur noch folgendes sagen: In 
Uebereinstimmung mit den verbündeten Regierungen betrachte ich es als 
Ehrenpflicht, als Pflicht ausgleichender Gerechtigkeit, als sozialpolitische 
Notwendigkeit, daß die der Gesamtheit auferlegten neuen Steuern zum 
guten Teil von den Besitzenden getragen werden. Es geht nicht an, daß 
500 Millionen neuer Steuern nur auf die Mittelklassen oder auch weniger 
Bemittelte gelegt werden, auf Verbrauchsabgaben und indirekte Steuern, 
die die Mittelklassen und weniger Bemittelten verhältnismäßig härter 
treffen als die Begüterten. (Lebhaftes Hört, hört! links.) Es wäre auch 
ungerecht und unrichtig, einzelne Arten des Besitzes zu belasten und andre 
freizulassen. Weil sie alle Arten des Besitzes gleichmäßig trifft, weil sie 
die Abstufung nach der Leistungsfähigkeit ermöglicht, weil sie dem Boden 
sozialer Gerechtigkeit entspringt, nicht aus Eigensinn und Rechthaberei 
halte ich an der Erbschaftssteuer fest und wende mich gegen die Versuche, 
einzelne Arten des Einkommens oder des Erwerbs einer Besteuerung zu 
unterziehen. Ich lehne es ab, im Bundesrate Steuern zu vertreten, die 
Handel und Gewerbe schwer schädigen, die Handel und Industrie belasten, 
die die gesamte wirtschaftliche Stellung des Landes verschlechtern. (Lebhafte 
Zustimmung links.) Die Finanzreform — das ist die wohlerwogene Ansicht 
aller verbündeten Regierungen — kann nur zustande kommen, wenn die 
Beschlüsse dieses Hauses sachlich vertretbar sind und nach sachkundigem 
Urteil die unbedingt notwendige Summe in ihrem vollen Betrage ergeben. 
Trotz der Schwierigkeit der Situation und der bedauerlichen Spannung 
zwischen den verschiedenen Parteien des Hauses halte ich noch an der 
Hoffnung fest, daß in diesem hohen Hause Gemeinsinn, nationales und 
soziales Empfinden den Sieg davontragen werden über Kleinlichkeit und 
Parteigezänk. In dieser Hoffnung werde ich bestärkt durch die Stimmung 
im Lande. Diese ist frei von Engherzigkeit, sie würdigt die große Auf- 
gabe und wird früher oder später streng mit den Parteien ins Gericht 
gehen, die das große Werk der Finanzreform schädigen oder zu Falle 
bringen sollten. (Lebhafte Bewegung.) 
Europäischer Geschichrskolender. L. 14
	        
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