Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Maas Feutsce Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 16.) 211 
teuert und das können wir in Deutschland uns nicht gestatten. Wir sind 
in Deutschland im Berhältnis zur Unternehmungslust dazu ein an Be- 
triebskapital armes Land. Eine weitere Folge würde sein, daß das deutsche 
Kapital, das Anlagen sucht, nach dem Auslande abwandert. Niemand 
kann den deutschen Kapitalisten daran hindern, seine Anlagen in guten 
ausländischen Papieren, die in London, in Antwerpen gehandelt werden, 
zu suchen, wenn ihm die Anlage im Inlande erschwert wird. Und nun 
noch die besondere Besteuerung der für Termingeschäfte zugelassenen Papiere. 
Es steht das doch in direktem Widerspruch damit, bhaß das Börsengesetz 
im Frühjahr vorigen Jahres den Kreis der Papiere, die im Termin ge- 
handelt werden können, erweitert hat. Nebenbei würde es ja ein Schlag 
ins Wasser sein, denn es ist gar nicht anzunehmen, daß die Gesellschaften 
gutwillig die Mehrkosten einer solchen Belastung tragen würden. 
Und nun der finanzielle Erfolg: Die Antragsteller haben 80 Mil- 
lionen herausgerechnet. Aus der Begründung ihres Antrages kann man 
dreist den Satz unterschreiben, daß alles auf Schätzungen beruht. Alles ist 
Schätzung, sowohl in Bezug auf die Höhe des Umsatzes, als die Höhe des 
umlaufenden Kapitals, und jeder Satz der Berechnung ruht auf einer zum 
mindesten ganz schwankenden Unterlage. Selbst wenn man davon aus- 
eht, daß kein erheblicher Rückgang des Verkehrs infolge dieser starken 
Besteuerung stattfindet, so würde man keinesfalls über 50 Millionen kommen. 
Es kommt dazu, daß eine derartige Einwirkung auf den Verkehr der 
Börse einen Verlust an Umsatzsteuern dem Reich bringen würde. Das 
Hauptargument für die Steuer war nun, daß sie sich in Frankreich be- 
währt habe. Nach den Erkundigungen, die wir in Frankreich eingezogen 
haben, ist das Gegenteil der Fall. Die soliden Anlagen haben den fran- 
zösischen Markt geflohen. Der jetzige französische Finanzminister Caillaux 
hat sich sehr scharf darüber geäußert. Er sagte: Die ausländischen Schuldner, 
die freie Wahl haben, ziehen sich vom Markte zurück, von dem sie durch 
übertriebene Abgaben abgestoßen werden. Man trifft wohl genug aus- 
ländische Wertpapiere, aber sie sind mit wenigen Ausnahmen Werte 
zweiten und dritten Ranges, für die die Stener keine Rolle spielt, weil 
sie meist keine oder geringe Dividende bezahlen und hauptsächlich darauf 
ausgehen, ihre Werte andern aufzuhalsen. Die extreme protektionistische 
Mohnahme habe gerade diejenigen Interessen geschädigt, die man schützen 
wollte, dem Fiskus seien Einnahmen entgangen, der Pariser Markt sinke 
mehr und mehr von seiner Bedeutung herab, die Kapitalien seien unbenutzt 
oder ins Ausland gedrängt worden. Und in Konsequenz dieser Auffassung 
hat Herr Caillaux in dem Einkommensteuergesetz, das jetzt der Beratung 
der parlamentarischen Körperschaften unterliegt, die Beseitigung der Steuer 
auf ausländische Papiere vorgeschlagen. Ich weiß sehr wohl, daß andere 
Herren, z. B. der frühere Finanzminister Rouvier, darüber anders denken, 
aber die Mehrheit des französischen Parlaments hat sich jedenfalls der 
Meinung Caillaux' angeschlossen. 
Im großen und ganzen kann man in Deutschland annehmen, daß 
die gesamte Einkommensteuer 20 bis 30 Prozent der Dividende beträgt, 
während sie in Frankreich nur 12 Prozent betragen würde. Wenn wir 
nun noch eine Kotierungssteuer einführen, die wieder die Aktionäre, die 
Obligationäre trifft, so würde das nach Meinung der verbündeten Re- 
gierungen den Aktionären mehr schaden als zulässig ist und die Kapital- 
assoziation erschweren. Es wäre doch wirklich eine Ironie des Schicksals, 
wenn in dem Augenblick, wo die Pariser Börse sich von dieser Last befreit, 
das deutsche Reichsgesetz sie für die deutschen Börsen einführen würde. Ich 
glaube, daß bei der ganzen Tendenz dieser Vorschrift eine gewisse instinktive 
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