Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

216 Des Denisqe Reit und seine einjelnen Glieder. (Juni 17.) 
mung links), daß dieser Blockgedanke, der mit vieler deutscher Warmherzig- 
keit aufgenommen wurde, ein Ruhmesblatt in der Amtsgeschichte des Reichs- 
kanzlers bilden wird. (Lachen im Zentrum.) Ich bin überzeugt, daß er 
diesen Ruhm nicht dadurch zerstören wird, daß er einer Finanzreform zu- 
stimmt, die den Liberalismus ins Gesicht schlägt. (Stürmischer Beifall links.) 
17. Juni. Preßstimmen über die Rede des Reichskanzlers. 
„Kreuzzeitung“": „Wir haben seinerzeit der Erbschaftssteuer nur 
zugestimmt unter dem Vorbehalt, daß Ehegatten und Kinder freigelassen 
werden sollen. Das war auch der Regierung bekannt. Das jetzt bestehende 
Dilemma hätte also bei größerer Vorsicht vermieden werden können. Doch 
wozu Rekriminationen? Jetzt kommt es darauf an, zu einem günstigen 
Ergebnisse der Reichsfinanzreform zu kommen. Der Reichskanzler hat er- 
klärt, daß er sich nicht entschließen werde, dem Bundesrate Steuern zu 
empfehlen, die Handel und Verkehr erschweren und die wirtschaftliche Lage 
verschlechtern. Er hat ferner betont, daß die notwendige Summe von 
500 Millionen Mark aufgebracht werden müsse. Diese Ziele der Reichs- 
finanzreform können und werden erreicht werden. Die Konservativen 
insonderheit werden es sich angelegen sein lassen, nach Kräften hierbei mit- 
juwirten: und sie hoffen und erwarten, daß eine starke Mehrheit für die 
erabschiedung der Reform sich schließlich noch zusammenfinden wird.“ 
„Deutsche Tageszeitung“: „Wir beanspruchen ebensowenig wie 
Fürst Bülow ein Mandat als Ratgeber der konservativen Partei. Aber 
das glauben wir unumwunden aussprechen zu sollen: Wenn die Konser- 
vativen nach allem ehrlichen und loyalen Widerstande in der Frage der 
Erbschaftssteuer, nach allem ihrem Entgegenkommen durch ein volles halbes 
Jahr mühseligster Arbeit, und zugleich nach dem, was sie, um alle An- 
feindungen unbekümmert, positiv geleistet haben: wenn sie nach alledem 
nur um der Linken willen von ihrer in den feierlichsten Erklärungen fest- 
gelegten Ueberzeugung in einer wichtigen Steuerfrage abgehen würden — 
ann würden sie nicht nur in der Parlamentsarena ihr Ansehen als zu- 
verlässige, klarblickende und überzeugte Politiker aufs Spiel setzen, sondern 
auch einen großen Teil ihres Kredits in weiten Kreisen der Bevölkerung 
verlieren, die in ihnen bisher die geborenen Vertreter ihrer Interessen 
und Nöte sahen.“ 
„Post“: „Darüber konnte niemand im Zweifel sein, daß die Tage 
der Abrechnung gekommen waren, als sich Fürst Bülow erhob, um sofort 
mit einem mächtigen Ausfall „aufs Ganze"“ vorzugehen. Klar und be- 
stimmt übernahm mit der gestrigen Rede Fürst Bülow seine Führerrolle. 
Jedem einzelnen sagte er offen und ohne mit der Wimper zu zucken, 
wohin er sich verlaufen hätte und wo sein Platz sein muß, jeder Fraktion 
eigte er ihre Irrtümer und taktischen Fehler und seine eigene Stellung. 
ag man stehen, wo man will: Die Art, wie Fürst Bülow vor der Ab- 
rechnung ein großes Aufräumen vornahm, dürfte ihm einen großen Teil 
des etwas verfallenen Ansehens wieder errungen haben. So, wie er gestern, 
pflegt kein Ministerpräsident zu sprechen, dem es an ernstem Willen und 
moralischer Kraft, an Ueberzeugung zu seiner guten Sache und an Zu- 
stimmung seiner Mitarbeiter und seines kaiserlichen Herrn fehlt, wenn auch 
im Augenblick manche Wendung verkannt und unter-= oder überschätzt worden 
sein mag, so wird dieser Eindruck schließlich der bleibende sein." 
„Bossische Zeitung“": „Der Reichskanzler will den Liberalismus 
nicht ausschalten, der Reichskanzler kann gehen. So schien die Stimmung 
der Konservativen, von Herrn Erzberger und seinen Freunden nicht erst 
zu reden. Fürst Bülow verdarb es mit der Rechten vollends, indem er
	        
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