Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

220 Das Ventsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 17.) 
heit zustande kommt. Jedenfalls müssen wir aber feststellen, daß der 
Reichskanzler bisher die Wirkung erzielt hat, daß in der Kommission die 
Entscheidungen nicht immer aus sachlichen Gründen getroffen wurden. 
(Zustimmung im Zentrum.) Das gilt vor allem gegenüber dem Antrag 
LHereld. Ueber die Angriffe auf den Reichskanzler durch Mitglieder der 
entrumspartei, über die er sich beklagt hat, weiß ich nichts. (Heiterkeit. 
Zuruf bei den Sozialdemokraten: Sie lesen wohl keine Zentrumsblätter?! 
Heiterkeit.) Ich sage, ich weiß es nicht. Jedenfalls beziehen sich diese 
Angriffe auf das Verhalten des Kanzlers in den Novembertagen. Er 
wird selbst zugeben, daß man über sein Verhalten an jenen beiden Sitzungs- 
tagen sehr verschiedener Meinung sein kann, ohne seiner Ehre nahe zu 
treten. (Beifall im Zentrum und rechts.) Der Angriffsartikel in der 
„Germania“ wegen der Bündnistreue zu Oesterreich rührt aber von einem 
Verfasser her, dem wir völlig fremd gegenüberstehen. Er ist auch nicht 
katholisch. Wir haben mit der ganzen Sache nichts zu tun. Warum be- 
schwert sich der Reichskanzler nur über Angriffe von unserer Seite? Ich 
erinnere ihn daran, daß hier erst kürzlich der nationalliberale Abgeordnete 
Weber erklärt hat, daß der Kanzler seine Sache mit der Finanzreform 
recht schlecht mache. Der Kanzler soll sich auch einmal die nationalliberale 
Presse ansehen, wie die über ihn denkt. Warum sagt er darüber nichts? 
Er erinnerte gestern an ein Wort Bismarcks von der „Drecklinie“. Es 
ist aber völlig falsch, wenn er etwa glaubt, wir boykottieren ihn, weil er 
die Reichstagsauflösung herbeigeführt hat. Darin irrt er sich ganz ge- 
waltig. Ich begreife nicht, wie er noch jetzt diesen Gedanken haben kann. 
Ich habe ihm ja in der ersten Sitzung des neugewählten Reichstags gesagt, 
woran es liegt, daß unsere Beziehungen sich so gestaltet haben, weil er 
uns den Vorwurf der antinationalen Arroganz machte. (Stürmische Zu- 
stimmung im Zentrum.) Er tat aber, als ob nichts geschehen sei. Selbst 
wenn das seine Ueberzeugung war, so hätte er, nachdem er sehen mußte, 
daß wir dieses Wort als eine persönliche Beleidigung auffassen mußten, 
sich nichts vergeben, wenn er erklärt hätte, daß er nicht verletzen wollte. 
(Lebhafte Zustimmung im Zentrum.) Dann wäre diese Frage erledigt 
gewesen. Was wir übrigens als taktvoll ansehen, darüber zu entscheiden, 
ist unsere eigene Sache. (Zustimmung im Zentrum.) Wir stehen auf dem 
Standpunkte, daß auch die Gesetze, die der Reichskanzler zugunsten des 
Agrariertums, wie er sich ausdrückt, zustande gebracht hat, nur dadurch 
zustande gekommen sind, daß die Vorschläge der Regierung eine Resonanz 
im Reichstage gefunden haben. Würden sie diese Resonanz nicht gefunden 
seoen dann würden die Verdienste des Reichskanzlers, von denen er ge- 
prochen hat, nicht so groß sein. Wir werden unsere Entscheidung fällen 
ohne Rücksicht auf Personen, für uns wird bestimmend und maßgebend 
sein auch nicht das Agrariertum, maßgebend wird vielmehr sein das 
Interesse des Reiches, die Erhaltung und Förderung der Interessen des 
Deutschen Reiches, des deutschen Volkes. (Stürmischer Beifall des Zentrums.) 
Preuß. Finanzminister Frhr. v. Rheinbaben glaubt namens der 
verbündeten Regierungen erklären zu können, daß gegen die Kotierunze- 
steuer, wie sie hier beschlossen ist, ernste und nicht überwindbare Bedenken 
bestehen. Den Grundgedanken, das an der Börse umlaufende Kapital an- 
gemessen heranzuziehen, teilen wir, und wir haben Ihnen Vorlagen unter- 
breitet, wonach wir aus dem rein börsenmäßigen Berkehr etwa 30 Millionen 
iehen wollen. Ich hoffe also, da übereinstimmende Grundgedanken be- 
Kehen, werden wir uns auch über die Form verständigen. Es hat wenig 
Wert, sich hier in Rekriminationen zu ergehen über das, was in einem 
früheren Stadium der Sache der eine oder andere gesagt hat. (Sehr richtig!
	        
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