Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Des Venische Reich und seine einjelnen Glieder. (Juni 19.) 227 
ausgetauscht war, war es mit einem Male anders. Wir hoffen nach wie 
vor auf die verbündeten Regierungen, daß sie eine solche Steuermacherei 
nicht mitmachen und sich ihrer Verantwortung bewußt werden; dann werden 
wir andere und bessere Steuern finden. (Lebhafter Beifall links.) 
19. Juni. (Reichstag.) Vierter Tag der Debatte über die 
Finanzreform. 
Der preußische Finanzminister Freiherr v. Rheinbaben spricht über 
die Steuerveranlagungen, die nach einer Broschüre des Professors Delbrück 
namentlich auf dem Lande viel zu niedrig seien. Er könne einen funda- 
mentalen Unterschied zwischen Stadt und Land nicht anerkennen, sondern 
müsse sein Urteil dahin abgeben: peccatur extra et intra muros. Es 
wird das volle Ergebnis zum Teil nicht in der Stadt erzielt, zum Teil 
nicht auf dem Lande, zum Teil nicht bei immobilem Vermögen, zum Teil 
nicht bei mobilem Bermögen. In dieser Beziehung sind gar keine Unter- 
schiede zu machen. Aber in der Mehrzahl der Fälle liegt eine dolose 
Minderschätzung, eine dolose Absicht nicht vor. Die Differenzen liegen auf 
dem Gebiete der Schätzung, wie hoch das Naturaleinkommen des Besitzers 
ist, wie hoch die Abnutzungsquote bei industriellen Etablissements ist usw. 
Dann möchte ich dem Abg. Mommsen gegenüber hervorheben, daß wir in 
Preußen und wohl auch in den anderen Bundesstaaten durch eine immer 
schärfere Veranlagung zu immer besseren Ergebnissen gelangt sind. Im 
JBbe 1892 ergab die Einkommensteuer 125 Millionen Mark und im 
Jahre 1909 278 Millionen Mark. Die Einkommensteuer ist also in den 
17 Jahren um nicht weniger als 153 Millionen, beinahe um 120 Prozent 
gestiegen. Das ist ja zum großen Teil auf unsere wirtschaftliche Ent- 
wickelung zurückzuführen, aber zu einem wesentlichen Teil auch auf die 
immer schärfere und richtigere Erfassung des Einkommens. Von 1899 
bis 1903 sind infolge von Berichtigungen und Beanstandungen der Steuer- 
erklärungen in Stadt und Land nicht weniger als 2½ Milliarden Ein- 
kommen mehr erzielt gegenüber dem deklarierten Einkommen. (Hört, hört! 
rechts.) Davon sind nicht weniger als 83 Millionen Mark mehr Steuern 
entrichtet worden. (Hört, hört! rechts.) Daraus wollen Sie ersehen, daß 
in der Tat die Kontrolle und die Tätigkeit der Veranlagungsbehörden von 
sehr wesentlichem Ergebnis gewesen sind. Speziell im Jahre 1908 sind 
von den Steuererklärungen nicht weniger als 24 Prozent beanstandet worden. 
Was die formelle Seite anlangt, so ist der Finanzminister in Preußen 
und wohl auch in den übrigen Staaten bei der materiellen Feststellung 
des Einkommens vollkommen ausgeschaltet. Er kann gar nicht in materielle 
Entscheidungen im Einzelfalle eingreifen. Das liegt in den Händen der 
Selbstverwaltungsbehörden. Wir können nur dem Vorsitzenden der Ver- 
anlagungskommission angeben, soundso zu verfahren. Die Veranlagungs- 
kommission besteht aus ganz selbständigen, höchst angesehenen Mitgliedern 
der betreffenden Gegend, die voll ihre Pflicht erfüllen. Diesen Beamten, 
die jahraus jahrein ihre schwere Pflicht erfüllen, würde man bitteres Un- 
recht tun, wenn man glauben wollte, daß sie nicht Licht und Schatten 
gleichmäßig verteilen, daß sie den Großgrundbesitz gegenüber anderen 
Ständen bevorzugen wollten. (Sehr richtig! rechts.) 
Bruhn (Ref.P.) beklagt sich über die Agitation des Bundes der 
Landwirte in seinem Wahlkreise und spricht für die Kotierungssteuer. Der 
Reichskanzler wolle keine Steuern gegen den Freisinn machen, oder was 
dasselbe sei, keine Steuern gegen die Börse. Die von der Regierung vor- 
geschlagenen Ersatzsteuern fänden im allgemeinen die Zustimmung seiner 
Partei. Merkwürdig sei es, daß die Parteien, die früher für die Hand- 
15“
	        
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