Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

228 Das Dentsqe Reit und seine eintelnen Glieder. (Juni 19.) 
werker absolut nichts übrig gehabt hätten, sich jetzt so handwerkerfreundlich 
gebärdeten. 
Württembergischer Finanzminister v. Geßler: Wenn ich in so vor- 
gerücktem Stadium noch das Wort ergreife, so besteht bei mir nicht die 
Absicht, auf alle Einzelheiten der Vorlage einzugehen. Nach den er- 
schöpfenden und ausgezeichneten Ausführungen, mit denen in den letzten 
Tagen diese Vorlagen begründet worden sind, würde das auch nur eine 
ununterbrochene Reihe von Wiederholungen bedeuten. Ich will mich auf 
einige Ausführungen zur Erbschaftssteuer beschränken. Ich möchte auch 
meinerseits feststellen, daß unter den verbündeten Regierungen vollkommene 
Einmütigkeit hinsichtlich der Erbschaftsbesteuerung besteht. (Beifall links.) 
Die württembergische Regierung hat sich vom ersten Anfang der Verhand- 
lungen an durch alle Stadien hindurch mit Nachdruck für eine Besteuerung 
der Erbschaften der Kinder und Ehegatten ausgesprochen. (Beifall links, 
Unruhe rechts.) Sie hat es stets als eine politische Notwendigkeit be- 
trachtet, daß ein erheblicher Teil der neuen Steuern von dem Besitz auf- 
gebracht wird. Nun hat der Abgeordnete Singer sich mit scharfen Worten 
über das Mißverhältnis ausgesprochen, das zwischen dem von den ver- 
bündeten Regierungen geforderten Anteil für Besitzsteuern bestehe, und dem 
Anteil, der in Form der indirekten Steuern die breiten Schichten der Be- 
völkerung trifft. Ich glaube, der Abgeordnete Singer hat dabei übersehen, 
welche Verschiedenheit hinsichtlich der Besteuerung zwischen dem Reich und 
den Bundesstaaten besteht. Diese Verschiedenheit findet ihren prägnantesten 
Ausdruck darin, daß das Reich auf die indirekten Steuern und die Bundes- 
staaten auf die direkten Steuern angewiesen sind. Weiter hat sich der 
Abgeordnete Mommsen seinerseits für eine Reichseinkommen-= und Ver- 
mögenssteuer ausgesprochen. Ich halte es für sehr bedenklich, diese Ein- 
nahmequelle für das Reich zu eröffnen. Von allem andern abgesehen, 
möchte ich nur darauf hinweisen, daß wie wir in Württemberg, so auch 
andere Bundesstaaten schon in naher Zukunft mit der Möglichkeit rechnen 
müssen, die direkten Steuern zu erhöhen. (Hört, hört!) Der Abgeordnete 
Mommsen hat sich auch darüber aufgehalten, daß nach dem neuen Erb- 
schaftssteuergesetz die Bundesstaaten 25 Prozent bekommen sollten. Er will 
diesen Anteil beseitigen, denn auf eine Beseitigung läuft seine Forderung 
von zehn Prozent hinaus. Mit diesen zehn Prozent wird den Bundes- 
staaten kaum das vergütet, was sie für die Erhebung dieser Reichssteuern 
aufwenden müssen. Was Frhr. v. Rheinbaben über das Verhältnis der 
preußischen bäuerlichen Bevölkerung zum Erbschaftssteuergesetz gesagt hat, 
trifft auch für Württemberg vollkommen zu. Auch bei uns wird die 
Steuer in einer so schonenden Form erhoben werden, daß alle Bedenken 
in dieser Richtung hinfällig sind. Ich wiederhole, daß die württembergische 
Regierung auf dem Standpunkt steht: Ein erheblicher Teil des Steuer- 
bedarfs muß durch Besitzsteuern aufgebracht werden. Auch die Konservativen 
haben sich ja im Laufe der Zeit auf diesen Boden gestellt. Abweichende 
Meinungen bestehen nur über die Art der Besitzbesteuerung. Ich gebe 
die Hoffnung nicht auf, daß wir zu einer Einigung kommen, denn bei 
einer so weitgehenden steuerlichen Belastung unseres gesamten Bolkes muß 
es für den Besitz eine Ehrenpflicht und eine soziale Pflicht sein, nach 
Kräften zur Hebung der Finanznot des Reiches beizutragen. (Beifall 
links. Unruhe rechts.) 
Dr. v. Payer (südd. Vp.) wirft am Schluß seiner Rede einen Rück- 
blick auf die Verhandlungen: Es ist in den letzten Tagen wiederholt gesagt 
worden, daß unsere Verhandlungen weit über den Rahmen der Reichs- 
finanzreform hinaus von großer politischer Wirkung auf unsere ganze
	        
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