Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

236 Hs Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 24.) 
haben. Der konservative Redner schließt mit dem Ausdruck der Erwartung, 
daß nach der Ablehnung der Erbschaftssteuer alle bürgerlichen Parteien sich 
zum Zustandebringen der Reform auf anderm Wege zusammenfinden werden. 
Wir wollen lediglich eine Pflicht gegen das Vaterland erfüllen. Alle 
Gründe und Gegengründe sind in zahllosen Artikeln und Reden dargelegt. 
Wir werden das Gesetz mit großer Mehrheit ablehnen. 
Reichsschatzsekretär Sydow vertritt den Darlegungen des Frhrun. 
v. Richthofen gegenüber das Prinzip der Heranziehung des Besitzes und 
der Leistungsfähigkeit. Der Ersatz durch Spezialsteuern sei unzureichend 
und berücksichtige nicht die Verschuldung, dagegen seien die Erbschaftsrenten 
sehr niedrig. Die sozialdemokratischen Anträge auf Erhöhung der Steuer- 
sätze seien abzulehnen. Auch der Antrag des Frhrn. v. Gamp sei für die ver- 
bündeten Regierungen unannehmbar. Die Erbschaftssteuer sei die beste Steuer 
im ganzen Bukett der Regierung. (Beifall links.) Man solle sie darum 
nicht zerpflücken. Ausländern sei der ablehnende Standpunkt gegen die 
Erbschaftssteuer ganz unverständlich. Auch Deutschland werde sich an die 
Steuer gewöhnen. (Lebhafter Beifall links.) 
Fürst Hatzfeldt (Rp.) verliest folgende Erklärung: Die Reichspartei 
hat sich in ihrer großen Mehrheit entschlossen, der Erbschaftssteuer zuzu- 
stimmen, um das Zustandekommen der Finanzreform zu fördern. Durch 
Ablehnung ihres Antrags auf verfassungsrechtlichen Schutz gegen die Er- 
höhung der Steuersätze und die Ausdehnung der Steuer auf kleinere Ver- 
mögen ist freilich ihr Festhalten an diesem Standpunkt erschwert. Gleichwohl 
werden wir bis auf wenige Ausnahmen in der zweiten Lesung für die 
Erbschaftssteuer stimmen, um einen letzten Versuch zu machen, die Finanz- 
reform zur Verabschiedung zu bringen. 
Frhr. v. Hertling (Ztr.): In manchen Kreisen ist das Gefühl ver- 
breitet, als ob der heutige Tag die Entscheidung sein würde für das Schicksal 
der Finanzreform. Ich weiß nicht, ob das richtig ist, denn die Zukunft 
ist dunkel. (Stürmische anhaltende Heiterkeit links.) Dann wird aber do 
denjenigen recht gegeben, die schon längst der Meinung sind, daß es ech 
hier gar nicht um eine einzelne Steuerfrage handelt, sondern daß ganz 
andere Dinge auf dem Spiele stehen. (Sehr richtig! im Zentrum.) Es ist 
in der letzten Zeit in der Presse mit wünschenswerter Deutlichkeit gesagt 
worden, worum es sich handelt, um einen großen Machtkampf zwischen 
rechts und links. Ich gehe darauf nicht ein. Ich folge auch Herrn Sieg 
nicht auf das politische Gebiet. Ich habe mir lediglich das Wort erbeten, 
um in wenigen Worten die Stellung meiner Freunde zur Erbanfallsteuer 
nochmals kurz zu präzisieren. Die Heranziehung des Besitzes durch Reichs- 
vermögens- und Reichseinkommensteuer ist ein unmöglicher Weg wegen des 
föderativen Charakters des Reichs. Den würden meine Freunde niemals 
mitgegangen sein. Durch die Erbschaftssteuer wird aber der Besitz nicht in 
gleichmäßiger Weise getroffen. (Sehr richtig! im Zentrum und rechts.) Die 
Prägravierung des Grundbesitzes durch diese Steuer ist so oft und von 
autoritativer Seite hier betont worden, daß es gar nicht nötig ist, darauf 
zurückzukommen. (Sehr richtig! im Zentrum und rechts.) Und wenn Herr 
Sieg die Reden von Ministern, die jetzt in dieser Debatte gehört sind, nach 
französischer Sitte überall anschlagen will, so könnte man ja auch die 
frühern Ministerreden anschlagen. (Sehr gut! im Zentrum.) Der Grund- 
besitz kann sich nicht wie das mobile Kapital der Kontrolle entziehen, und 
darin liegt für letzteres die Versuchung. Die Erbschaftssteuer auf Deszen- 
denten trifft die Familien ungleich nach der verschiedenen wirtschaftlichen 
und sozialen Stellung. Das läßt sich durch Staffelung gar nicht beseitigen 
(Sehr richtig! rechts und im Zentrum), und dann der viel verspottete 
 
	        
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