Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

256 Ho Deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 8. 9.) 
führung der sogenannten Talonsteuer. Sie setzt fest, daß jede bestehende 
Aktiengesellschaft im Falle der Ausgabe neuer Kuponbogen, jede Kommune 
für ihre Schuldverschreibungen, jedes Pfandbriefinstitut für seine Pfand- 
briefe eine einmalige, bei jeder neuen Ausgabe zu wiederholende Abgabe 
zu zahlen hat. Bei Aktiengesellschaften 1 v. H. für alle 10 Jahre, beie 
ausländischen Werten und industriellen Obligationen 5 v. T. für 10 Jahre, 
bei den übrigen Rentenverschreibungen 2 v. T. 
Als der eigentliche Urheber dieser Steuer gilt der Abgeordnete 
Müller-Fulda (Ztir.). Der Schatzsekretär Sydow erklärt, daß trotz 
mancherlei Bedenken die verbündeten Regierungen der Talonsteuer kein 
„Unannehmbar“ entgegensetzen werden. Die Talonsteuer wird mit 222 
gegen 134 Stimmen angenommen. Der Bankscheckquittungsstempel 
von 10 Pfennig pro Stück wird mit 217 gegen 131 Stimmen angenommen. 
Das Gesetz tritt am 1. August in Kraft. 
Es folgt das Finanzgesetz. Die konservativ-klerikale Mehrheit 
beantragt, die gestundeten Matrikularbeiträge aus den Jahren 1906 bis 
1908 den Einzelstaaten zu erlassen. Diese Matrikularbeiträge sollen auf 
Rechnung des Reiches übernommen und auf Anleihe gelegt werden. Die 
Nationalliberalen beantragen statt dessen, daß das Reich diese Matrikular- 
beiträge auf Anleihe übernehmen, aber den Einzelstaaten nur weiter stunden 
und sie zu dreiprozentiger Tilgung verpflichten soll. 
Zum Finanzgesetz liegt weiter ein Antrag Speck (Ztr.) vor, der 
den süddeutschen Staaten ein ausdrückliches Reservat in Bezug auf die 
Einnahmen aus der Branntweinsteuer geben will. Ohne ihre Zustimmung 
soll die Vorschrift des Finanzgesetzes, daß die Reineinnahme aus der 
Branntweinverbrauchsabgabe nach dem Maßstabe der Matrikularbeiträge 
zur Verteilung kommt, nicht geändert werden dürfen. 
Die Anträge der Mehrheit, betreffend die Matrikularbeiträge und 
Schuldentilgung, werden angenommen; ebenso der Antrag Speck (Ztr.) 
über die Bindung der Einnahmen aus der Branntweinverbrauchsabgabe 
zugunsten der Süddeutschen Staaten. 
Ein sozialdemokratischer Antrag über die Einfuhrsteuer und der Antrag 
Gyßling (frs. Vp.) auf Aufhebung der Fahrkartensteuer werden abgelehnt. 
Der Antrag Speck, die Herabsetzung der Zuckersteuer vom 1. April 
1910 bis 1. April 1914 hinauszuschieben, wird angenommen. 
bcdemit ist die zweite Lesung der Reichsfinanzreform 
beendet. 
8. Juli. Reichskanzler Fürst Bülow antwortet auf ein Tele- 
gramm des Bauernbundes in Gnesen: 
„Für Ihre telegraphische Begrüßung besten Dank. Die Stärkung 
des Deutschtums in der Ostmark und der Schutz der deutschen Landwirt- 
schaft sind Lebensbedürfnisse unseres Volkes. Daran wird weder eine neue 
Gruppierung der Parteien noch ein Personenwechsel in der Regierung 
etwas ändern können.“ 
9. Juli. (Reichstag.) Dritte Lesung der Finanzreform. 
Sie beginnt mit der Brausteuer. Dazu beantragen die Sozial- 
demokraten die Unterstützung arbeitslos werdender Arbeiter und Angestellter, 
die Mehrheitsparteien die Einführung einer Kontingentierung für neue 
Brauereien, die nach dem 1. August 1909 in Betrieb genommen werden, 
im Sinne einer Erhöhung der Steuersätze um 50 Prozent bis zum 
31. März 1915 und um 25 Prozent für drei weitere Jahre. 
Der Entschädigungsantrag der Sozialdemokraten wird mit 215 gegen
	        
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