274 Ds Vetsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Juli 10.)
anerkennen, daß die Herren von der polnischen Fraktion trotz der schwie-
rigen Lage ihren Wählern gegenüber mit uns positive Arbeit geleistet
haben. Wir erkennen an, daß sie an der Gesundung der deutschen Ver-
hältnisse tatkräftig mitgewirkt haben. Die liberale Seite kann sich eigentlich
nicht beschweren, wenn die Polen jetzt mit uns gehen. Die antipolnische
Politik hier im Reichstage hat ihre vornehmsten Träger auf der linken
Seite gehabt. Denken Sie an die Ostmarkenzulage und das Vereinsgesetz.
Unwillkürlich schweift heute der Blick zurück auf die Zeiten vor der Reichs-
tagsauflösung 1906. Ich habe bis in die letzten Tage die Frage gehört,
warum ist damals eigentlich der Reichstag aufgelöst worden? Denn darüber
sind wir uns wohl heute alle einig, daß die scharfe Kritik an kolonialen
Vorgängen, daß die gutmütige Protektion, die einige meiner Freunde
einigen Subalternbeamten haben angedeihen lassen, nicht der eigentliche
Grund der Reichstagsauflösung sein konnte. Ich schätze die Klugheit des
Fürsten Bülow viel zu hoch ein, als daß ich von ihm annehme, er habe
den Reichstag aufgelöst, weil er sich über irgendeine Partei geärgert hatte.
Ich glaube heute erkannt zu haben, um was es sich damals handelte.
Ein liberales Regime sollte im Reich und in Preußen aufkommen. Denken
Sie an die bedeutungsvollen Reden, die Herr Bassermann kurz vor der
Auflassung vor seinen Parteifreunden gehalten hat. Er sprach vom Macht-
hunger des Liberalismus. Ich unterschätze die Bedeutung des Liberalismus
nicht. Der Liberalismus ist die Weltanschauung vielleicht des größten
Teils unseres besitzenden Bürgertums. Der Liberalismus verfügt über
eine Presse, wie keine andere Partei. Das sei unumwunden zugestanden.
Aber über eines verfügt der Liberalismus nicht mehr, und das sind die
großen Wählermassen. Die Verhältnisse haben sich seit den siebziger Jahren
völlig geändert. Die Wiederkehr zu jener Zeit, wo der Liberalismus für
sich allein die Mehrheit hatte, ist ausgeschlossen. Dafür sorgt schon die
äußerste Linke. Wenn der Liberalismus noch einmal den Versuch machte,
die Herrschaft zu gewinnen, so konnte das nicht aus eigener Kraft ge-
schehen, sondern nur auf dem Umwege des Blocks. Ich habe am ersten
Tage nach dem Zusammentritt des neuen Reichstages zu einem konser-
vativen Abgeordneten gesagt: wenn diese Politik zu Ende geführt wird,
dann haben Sie die Zeche zu bezahlen! Das war der letzte Grund jener
Auflösung. Nun, früher war eine wirtschaftliche Mehrheit im Reichstage
nur möglich, wenn die Nationalliberalen mitmachten; im neuen Reichstag
ist eine solche Mehrheit möglich, auch ohne daß Sie dabei sind. Sie sind
aber selbst daran schuld. Von der großen liberalen Partei war auch früher
schon die Rede. Windthorst hat dazu einmal gesagt, er würde den Tag
begrüßen, an dem die große liberale Partei zustande käme, denn dann
würde es auch eine große konservative Partei geben. Die Hoße liberale
Partei ist nicht gekommen. Ich glaube nicht an den Block von Basser-
mann bis Bebel. Ich glaube namentlich nicht daran, daß Herr Basser-
mann selbst bei diesem Block sein wird. Wenn Sie aber einmal diese
liberale Partei gründen werden, dann wird auch die große konservative
Partei kommen und das Zentrum wird dann an der Stelle sein. (Leb-
hafter Beifall rechts und im Zentrum.)
Abgeordneter Dr. Wiemer (frs. Vp.): Die Finanzmisere des Reiches
rührt her aus der Zeit, in der die Zentrumspartei die Politik Deutsch-
lands entscheidend beeinflußt hat. Es ist nicht die erste Finanzreform, die
durch das Zentrum verpfuscht wird. Erst als sich in der Kommission dem
Zentrum die Möglichkeit zeigte, mit den Konservativen zusammenzugehen
und den Block zum Scheitern zu bringen, da wandte sich das Blättlein.
(Sehr richtig! links.) Herr v. Heydebrand hat von den großen Opfern