278 Das Heutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 10.)
legen Wert darauf, daß die liberalen Parteien — sich nicht miteinander
verschmelzen —, aber daß sie zusammen marschieren und in einheitlicher
Front hier auftreten. Herr v. Hertling hat zu Unrecht die Liberalen ge-
höhnt. Wir haben mehr Wählermassen hinter uns als das Zentrum.
(Zustimmung links.) Ich gebe aber der Hoffnung Ausdruck, daß die
Politik, die wir hier getrieben haben, uns weitere Wähler zuführen wird,
denn dem liberalen Gedanken gehört die Zukunft. Kein modernes Staats-
wesen kann ohne ihn bestehen. Wenn der Kampf kommt, so werden wir
mit Zuversicht ihn beginnen. Wir sind überzeugt, daß die Niederlage
von heute die Mutter unseres Sieges in der Zukunft sein wird. (Lebhafter
Beifall links.)
Abg. v. Dirksen (Rp.): Mit großer Konsequenz und Selbst-
verleugnung haben wir von Anfang an den Standpunkt festgehalten, daß
es unter Zurücksetzung aller parteipolitischen Zwecke allein nur darauf an-
kam, die Finanzen des Reichs zu sanieren. Wir haben unsere Ueber-
zeugung immer optima füde zur Geltung gebracht. Im Anfang haben
wir versucht, mit der Blockmehrheit zusammenzuarbeiten und wir haben
es lebhaft bedauert — das kann ich im Namen meiner Partei erklären —,
daß ein weiteres Zusammenarbeiten mit dieser Mehrheit aus den letzten
Wahlen nicht möglich war. Wir haben es für unsere nationale Pflicht
ehalten, mit der neuen Mehrheit zusammenzuarbeiten, um das Reich aus
einer Finanznot herauszubringen. Wir haben alles getan, um die Vor-
lagen möglichst günstig für das Volk zu gestalten, leider enthält die Finanz-
reform noch manche Mängel. Wir bedauern besonders, daß wir bei der
Branntweinbesteuerung nicht in der Lage waren, eine Ueberspannung der
Sonderinteressen zu verhindern. Aber trotz dieser Schönheitsfehler ist die
Finanzreform brauchbar. Lebhaft bedauern wir, daß der Reichskanzler,
dieser hervorragende, von Vaterlandsliebe getragene Staatsmann, nach
dem Gange der Dinge es für notwendig hält, seinen Abschied zu nehmen.
Wir bedauern auch die Parteizerklüftung und die scharfen Gegensätze, die
sich jetzt wieder geltend machen, und wir hoffen, daß sie allmählich wieder
auf das berechtigte Maß zurückgehen werden. (Beifall rechts.)
Abg. v. Czarlinski (Pole) verliest folgende Erklärung: In durch-
sichtiger Absicht ist in der letzten Zeit viel von einer konservativ-klerikal-
polnischen Koalition die Rede gewesen, wobei besonders Nachdruck auf das
Wort „polnisch“ gelegt worden ist. Ein angesehener Führer der National-
liberalen hat sogar in einer Versammlung die Frage aufgeworfen, ob man
denn glaube, daß die Polen ihre Zustimmung zur Finanzreform gratis
geben würden. (Sehr richtig! links.) Ich habe demgegenüber zu erklären,
daß für unsere Haltung bei der Finanzreform rein sachliche Gründe maß-
gebend gewesen sind. Wir sind auch in jedem Stadium der Verhandlun
vollkommen selbständig vorgegangen. Unsere Entschlüsse sind aus uns selb
heraus nach bester Ueberzeugung gefaßt worden. Niemand hat uns be-
einflußt, und auch wir haben nicht versucht, jemanden zu beeinflussen.
Wir haben lediglich unsere Pflicht als Abgeordnete getan und haben das
kleinere Uebel gewählt. (Lachen links.) Nun ist hier auf die deutsche
Kultur hingewiesen worden. Wir wollen aber auch für unsere Kultur
eintreten. Darum wünschen wir, daß bei diesem Kulturwettstreit mit Ge-
waltmaßregeln und Ausnahmegesetzen gegen uns jetzt nicht mehr gekämpft
wird. Wir haben nun bewiesen, daß wir mit Recht oerlangen können,
als gleichberechtigte Staatsbürger behandelt zu werden.
Abg. Raab (vwirtsch. Vgg.): Am meisten freuen wir uns über die
Börsensteuer. Der Gedanke der Erhaltung des Blocks war störend in der
Finanzreform. Fürst Bülow war zu optimistisch, wenn er schon jetzt