288 Das NVenuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 14.)
die dabei die konfessionelle Minderheit vertritt, daß diese Partei den aus-
schlaggebenden Einfluß ausübt im deutschen Reichstag und diesen Einfluß
so mißbrauchen kann, wie das am 13. Dezember 1906 der Fall war, das
halte ich allerdings für einen schweren Schaden. Ich glaube, das ist kein
Glück für die religiösen Interessen der katholischen Kirche in Deutschland,
und ich glaube, daß es ein Unglück ist für die politischen Interessen des
ganzen Landes. Auch darin wird mir die Zukunft recht geben. Wenn
gesagt worden ist, die konservative Partei hätte gar nicht das Zentrum
zur ausschlaggebenden Partei gemacht, sondern ihm nur einen Platz in
Reih und Glied einräumen wollen, so ist das eine Fiktion, die niemanden
täuschen kann. Von dem Augenblick an, wo die konservative Partei die
Brücken zu den Liberalen mit solcher Schroffheit abbrach, ist das Zentrum
mit seinen 105 Mitgliedern und seinem polnisch-elsässischen Anhang von
weiteren 30 Abgeordneten gegenüber 60 Konservativen wieder in die aus-
schlaggebende Stellung eingerückt. Gar nicht davon zu reden, daß das
Zentrum gegen die Konservativen stets auch die sozialdemokratische Gruppe
zu seiner Verfügung hat. Ich war der Vertreter und Träger einer festen,
entschlossenen und vor allem einer stetigen Ostmarkenpolitik, weil ich glaube,
daß Schwankungen und Schwäche auf diesem Gebiete die preußische und
die deutsche Macht, die Lebensinteressen der preußischen Monarchie und
des Deutschen Reiches an ihrer Wurzel berühren. Das Zusammengehen
der Konservativen mit den Polen muß auch die Deutschen im Osten de-
moralisieren. Namentlich jetzt, wo sich das Zentrum inniger als je zuvor
mit den Polen verbrüdert hat. Ob es wohl irgend einen Menschen auf
der Welt gibt, der wirklich annimmt, daß die Polen mit den Konservativen
gegangen sind und gegen die Erweiterung der Erbschaftssteuer gestimmt
haben, weil sie glaubten, auf diese Weise dem Deutschen Reich und dem
preußischen Staat einen Dienst zu erweisen? Risum teneatis amici. Die
Polen haben gegen die Erbschaftssteuer votiert, lediglich und ausschließlich,
weil sie wußten, daß sie damit den Reichskanzler zu Fall bringen würden.
Der Redakteur eines leitenden polnischen Blattes, des „Dziennik Berlinski“,
erklärte bald nach der Abstimmung: „Ich erkläre mit allem Nachdruck,
daß die polnischen Mitglieder des Reichstags mit ihrer Abstimmung, die
das Schicksal der Vorlage über die Erbschaftssteuer entschied, einzig und
allein die Beseitigung des Fürsten Bülow erzielen wollten.“ Wenn die
Polen dies Ziel erreicht haben, so gebührt ihr Dank hierfür der konser-
vativen Parteiführung. Was mich angeht, so konnte und wollte ich jeden-
falls nicht von der Gnade der polnischen Fraktion abhängen. Ich konnte
eine Entwickelung nicht mitmachen, bei der die polnische Fraktion eine solche
Rolle spielt, wie jetzt bei der gegenwärtigen parlamentarischen Mehrheit.“
14. Juli. Die Presse zum Rücktritt des Fürsten Bülow.
Die „Vossische Zeitung“ schreibt: „Fürst Bülow beansprucht für
das Vaterland nicht die Bedeutung wie einst der Freiherr v. Stein. Er
war in andere Verhältnisse gestellt, hatte andere Aufgaben, andere Ziele.
Aber eins hatte er mit ihm gemein, wenigstens am Ende seiner Laufbahn:
er suchte dem Liberalismus in Gesetzgebung und Verwaltung erhöhte Gel-
tung zu verschaffen, und er stieß dabei auf denselben hartnäckigen Wider-
stand der konservativen Kaste wie einst der Schöpfer der Städteordnung.
Stein wurde von den Junkern als Nivellierer, Jakobiner, Revolutionär
bezeichnet, der noch den Adel und den König beseitigen werde; gegen den
Kanzler mit dem agrarischen Leichenstein sind die Landlords höflicher; sie
richten sich gegen seine Anschauungen, und tun, als ob sie die Person
schonen wollten; sie begnügen sich mit berechneten Andeutungen, daß nicht