Das Beutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Juli 14.) 291
zur Zeit, da Fürst Bülow sein Amt antrat. Die Geschichte wird es nicht
leicht finden, seinen persönlichen Anteil an dieser Errungenschaft genau
einzuschätzen; allein eines beträchtlichen Teiles der Anerkennung dafür kann
ihn niemand berauben. Um ihm gerecht zu werden, muß man sich der
eigentümlichen Verhältnisse erinnern, unter denen er Bismarcks Stelle an-
trat. Als Staatssekretär wurde er zunächst Nachfolger des Frhrn. v. Mar-
schall. Er hatte eine große Schule durchgemacht, besaß glänzende Gaben,
und es gab Leute, die in ihm schon einen kleinen Bismarck erkennen
wollten. Er glänzte indes zunächst hauptsächlich durch geflügelte Worte,
die in den politischen Sprachschatz Europas übergingen. Redensarten, wie
das Hinlegen der Flöte, den Platz in der Sonne, Italiens Extratour und
manche andere, machten Glück. In englischen Augen war es jedoch das
Merkwürdigste bei seinem Auftreten, daß ein Staatsmann ohne parlamen-
tarische Erfahrung sich sofort als der beste parlamentarische Sprecher des
Festlandes mit der alleinigen Ausnahme Clemenceaus betätigte. Ohne
diese Geschicklichkeit und Gewandtheit in der Erörterung hätte Fürst Bülow
sich wohl nicht viel länger im Amte behauptet, als man im allgemeinen
erwartete. Neben seinem dialektischen Geschick fiel hauptsächlich seine gute
Laune auf, obschon beispielsweise im Verkehr mit Frankreich seine Urbanität
so Übertrieben war, daß er bei all seiner damit zusammengehenden ge-
schickten Persiflage doch an Talleyrands berühmten Ausdruck „faux bon-
bhomme “ erinnerte. Doch zu all diesem brachte Fürst Bülow einen Schatz
von gesundem Menschenverstande in den Geschäften zur Geltung. Das
war vielleicht ein ungenügender Ersatz für Bismarcks Genie, erwies sich in-
dessen gar manches Mal als ausnehmend wertvoll. Die vorbeugende Wirksam-
keit der Staatsklugheit des Fürsten wird wahrscheinlich einmal im Lichte
zeitgenössischer Denkwürdigkeiten als höchst wertvoll zutage treten. Die
Nachwelt dürfte wohl dereinst entscheiden, daß der persönliche Anstoß und
die Autorität des Kaisers seit Bismarcks Sturz die ausschlaggebenden Fak-
toren in der Wilhelmstraße gewesen sind. Allein Deutschland mit seiner
jährlich um eine Million wachsenden Bevölkerung hat seine diplomatische
Kraft zurückgewonnen, weil seine nationale Lebenskraft, sein Wohlstand,
seine industrielle Stärke, seine technischen Hilfsquellen, seine Steuerkraft
und seine Kampftüchtigkeit nie zu wachsen aufhören. Die schließliche Frage
der Deckung der Reichsausgaben für auswärtige und innere Politik hat
endlich Bülows Sturz herbeigeführt. Im finanziellen Ringen ist der von
ihm gebildete Block aus den Fugen gegangen. Indes sind schließlich doch
25 Mill. Pf. St. neuer Staatseinnahmen aufgebracht worden, und Fürst
Bülow scheidet in dem Augenblicke, wo die Reichsfinanzen wieder allen
vorläufigen deutschen Bestrebungen gewachsen sind. Der vierte Kanzler
wird in der Erinnerung leben als ein Mann, der im ganzen seinem Vater-
lande gute Dienste geleistet hat. Seit der Verfassungskrisis des letzten
Herbstes sind seine Beziehungen zu seinem Souverän schwieriger geworden
als zuvor, und wer immer auch erkoren sein mag, des Fürsten Nach-
solger zu werden, soviel scheint festzustehen, daß der persönliche Anstoß
des Deutschen Kaisers mehr als je der überwiegende Einfluß im Staate
sein wird.
Das „Wiener Fremdenblatt“: „Fürst Bülow hat es verstanden,
anders als Bismarck, aber nicht weniger als dieser, der Mann seiner Zeit
zu sein. In seiner äußern wie innern Politik läßt sich eine Folgerichtig-
keit nachweisen, die sich durch scheinbare Wandlungen hindurchzieht. Er
scheidet, wo ihn nichts zum Rücktritt zwingt, vielleicht in dem philosophischen
Gefühl, daß keinem das Glück für immer treu bleibt, und daß, wer un-
gezwungen scheidet, dem Neid des Schicksals zuvorkommt. Man weiß in
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