Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

292 Das Denisqe Reithh und seine einzelnen SGlieder. (Juli 15.) 
Deutschland, was das Reich an Bülow verliert; aber auch wir nehmen 
ungern von ihm Abschied.“ 
Das Wiener „Vaterland“: „Mit dem Fürsten Bülow scheidet ein 
Staatsmann aus dem öffentlichen Leben, der eine ausgeprägte Persönlich- 
keit war und auch seiner Politik eine starke persönliche Note zu geben 
wußte. Wir können nur die Hoffnung ausdrücken, daß es seinem Nach- 
folger vergönnt sein werde, mit Oesterreich--Ungarn in ebenso gutem Ein- 
vernehmen zu amtieren, als dies dem Fürsten Bülow gelang; denn in 
Deutschlands vernünftiger Auslandspolitik liegen die Hurgshaften des. 
europäischen Friedens.“ 
Das „Echo de Paris“ und „Figaro“ zeichnen beide das Bild 
Bülows in wenig schmeichelhafter Weise. „In Frankreich“", schreibt das 
erstere, „wird der Rücktritt des Fürsten kein Bedauern verursachen.“ Das 
Blatt wirft ihm vor, er habe schon von seiner Uebernahme des Staats- 
sekretariates des Auswärtigen an Frankreich gegenüber die Politik des 
doppelten Gesichts betrieben, von der die deutsch-französischen Beziehungen 
soviel zu leiden gehabt hätten. „Niemand“, erklärt es, „gefiel sich mehr als 
er darin, in den Unterredungen mit unsern Botschaftern glauben zu lassen, 
Deutschland wünsche eine aufrichtige Annäherung und ein ehrliches Ein- 
vernehmen mit Frankreich, und wenn dann, vertrauend auf diese Eröff- 
nungen Bülows, wir darüber zu genauen Begriffen kommen wollten, 
merkten wir schnell, daß hinter den liebenswürdigen und verheißungsvollen 
Eröffnungen kein wirklicher Wunsch zur Verständigung bestand.“ Der „Fi- 
garo“ kennzeichnet die politische Geschichte seiner Tätigkeit als Kanzler 
nach dem tatsächlichen Entwicklungsgang der Dinge, indem er darin fol- 
gendes persönliche Porträt von ihm einflicht: „Ein ausgezeichneter Im- 
provisator, vollendeter Turnkünstler, Flötenspieler oder Seiltänzer, offener, 
aber von keinem Skrupel zurückgehaltener Geist mit einem durch den Er- 
haltungstrieb in Spannung gehaltenen Willen, eher träge von Natur und 
keineswegs ungelegene Besorgnisse liebend, aber von wunderbarer Geschick- 
lichkeit zur Umkehr: wenn die Schwierigkeiten kommen, ist er sicherlich nicht 
derjenige, den die Widersprüche und Schwenkungen in Verlegenheit setzen.“ 
Das „Journal des Debats“ beurteilt Bülow als Staatsmann, 
aber sein Urteil fällt nicht viel besser aus. Das Blatt rühmt ihm seine 
wunderbare Redegewandtheit, seinen hochgebildeten Geist nach, aber als 
Staatsmann habe er nicht jene Weite des Blickes und jene Folgerichtig- 
keit der Ideen bewiesen, welche die Grundeigenschaften eines wahren Staats- 
mannes seien. Die einzigen großen Gedanken während seiner Amtszeit, 
die Weltpolitik und die Ausbreitung der deutschen Seemacht, rührten vom 
Kaiser her, und es wäre unrecht, ihm sein Verdienst darum zu schmälern. 
Der „Temps“" rühmt in seiner Besprechung des Kanzlerwechsels 
die großen persönlichen Eigenschaften, die den Fürsten Bülow auszeichneten 
und bemerkt dann über seine auswärtige Politik: „Auch diejenigen, und 
Frankreich gehört dazu, die sich nicht immer über ihn zu freuen hatten, 
verschließen die Augen nicht seinen Verdiensten und sie erinnern sich, daß, 
wenn er auch manchmal die Lage verkehrt beurteilte, wenn er auch lange- 
den Eingebungen einer schikanierenden Routine gehorchte, er doch wenigstens. 
Schmiegsamkeit genug besaß, um die äußersten Krisen zu vermeiden, die 
aus geringfügigen Gründen Frankreich und Deutschland aneinander ge- 
bracht hatten.“ 
15. Juli. (Sachsen-Koburg-Gotha.) Trauung des In- 
fanten Alfons von Spanien mit der Prinzessin Beatrice von Koburg. 
Sie ist nach einer Mitteilung des herzoglichen Geheimkabinetts be- 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.