Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

320 Das Besche Reich und seine eintelnen Glieder. (September 13./18.) 
ein Schlaglicht: Als der Schatzsekretär Sydow sagte: Ohne Erbschaftssteuer 
keine Finanzreform, da waren wir alle einig, daß die Erbschaftssteuer ab- 
zulehnen sei, um die Finanzreform zu Fall zu bringen. Das änderte sich 
aber, als man erkannte, daß das Wort nicht ernst zu nehmen sei, und die 
letzten Zweifel für uns beseitigte die Rede des Konservativen v. Heyde- 
brand, der da rund heraus sagte: Wir bewilligen unter keinen Umständen 
die Erbschaftssteuer in einem Parlament, das aus allgemeinen, gleichen 
Wahlen hervorgeht. Damit war der prinzipielle Gesichtspunkt gegeben. 
Die Erbschaftssteuer wie sie war, hätten die Agrarier vielleicht noch ge- 
schluckt, aber es packte sie die Angst vor der grundsätzlichen Festlegung 
direkter Steuern durch den Reichstag. Im Parteiprogramm heißt es: 
Zunächst verlangt die Partei die Einkommen= und eine Erbschaftssteuer. 
Das „zunächst“ heißt doch wohl unter dem kapitalistischen System, denn 
über das Steuersystem in der sozialistischen Gesellschaft sind wir uns vor- 
läufig ja noch nicht einig. (Heiterkeit.) Es handelt sich nicht darum, daß wir 
mit den Steuern auch Soldaten und Kriegsschiffe bewilligen. Die Soldaten 
und Schiffe werden von den bürgerlichen Parteien bewilligt. Hier handelt 
es sich um die Verteilung der Kosten, und da sagen wir: keinen Groschen 
aus der Tasche der Arbeiterklasse. (Sehr gut.) Aus der Tasche der be- 
sitzenden Klasse nehmt, was ihr wollt. Wir sind nicht zum Schutz der 
Besitzenden da. Die Erbschaftssteuer ist der erste bedeutsame Schritt auf 
dem Wege, die indirekten durch direkte Steuern zu ersetzen. Wie kämen 
wir dazu, uns zu Mitschuldigen derer zu machen, die aus der großen 
Klassenerregung des Agrariertums heraus diese Steuer ablehnen. In dem 
Augenblick, wo die Agrarier unter Aufbietung aller ihrer Kräfte diese 
Steuer ablehnen, durften wir uns unter keinen Umständen an ihre Stelle 
stellen. Das ist mein Standpunkt nicht: aus den Taschen der Leute, die 
Erbschaften über 20000 Mark einsacken, keinen Groschen zu bewilligen. 
Aus den Taschen solcher Leute mögt ihr Kriegsschiffe bauen, soviel ihr 
wollt. (Beifall und Unruhe.) Wenn die Besitzenden allein die Kosten 
für Militarismus und Marinismus zu tragen haben, wird ihre Begeisterung 
sich schon abkühlen. Aus allen diesen Gründen hätten wir nach meiner 
Meinung auch bei der dritten Lesung die Erbschaftssteuer bewilligen müssen. 
Wenn aber über die einzelnen Steuern die Entscheidung zu fällen ist, so 
steht die Frage so: Wem legen wir die Lasten auf? Die Steuern von 
enhbenden Klasse abzuhalten, ist nicht unsere Aufgabe. (Lebhafter 
eifall. 
Da Bebel durch körperliche Schwäche am Sprechen verhindert war, 
so verteidigte Abg. Singer die Haltung der Fraktion. Er behauptete, 
daß die Eventualität einer Stimmenthaltung in dritter Lesung von der 
Fraktion gar nicht erörtert worden sei und erklärte, daß er, obwohl er 
persönlich für die Ablehnung der Erbschaftssteuer plaidiert habe, eine 
entsprechende Festlegung für die Zukunft im Sinne Kautskys verwerfe. 
Obstruktion im Reichstag, wie einzelne Genossen forderten, würde die 
Partei nur lächerlich machen. Dazu führt Molkenbuhr an schlagenden 
Beispielen aus, daß eine sozialdemokratische Obstruktion auch wirkungslos 
bleiben müsse, und die Forderungen einiger Genossen auf Straßenkund- 
gebungen oder Umzingelungen des Reichstages erzielten nur Lacherfolge. 
Ein plötzlich eingebrachter Schlußantrag wird gegen die Revisionisten an- 
genommen, worauf eine von Dr. Franck-Mannheim beantragte Resolution 
verlesen wird. Sie lautet: „Der Parteitag erklärt, daß er die Haltung 
der Reichstagsfraktion, insbesondere ihre Zustimmung zur Erbschafts- 
steuer billigt. Er fordert die Fraktion auf, weiterhin die indirekten 
Steuern zu bekämpfen und dahin zu wirken, daß den herrschenden
	        
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