Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Versche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 9.) 351 
sind sie sich nie im Zweifel gewesen. Ebenso wie sie sich auch nie einen 
Augenblick der Flut von Vorwürfen entzogen haben, die wegen dieser 
81 immung gegen sie gerichtet wurden. Aber genau wie im Juli d. J. 
ind die verbündeten Regierungen noch heute fest davon überzeugt, daß 
es nur mit ihrer Zustimmung möglich werden konnte und möglich geworden 
ist, einen Etat vorzulegen, der eine allmähliche Gesundung unserer Reichs- 
finanzen in Aussicht stellt. (Sehr richtig! rechts.) 
In der Thronrede sind die hauptsächlichsten gesetzgeberischen Arbeiten 
bezeichnet, die den Reichstag im Winter beschäftigen werden. Es ist zum 
Teil erwartet worden, daß neben diesen gesetzgeberischen Vorlagen noch 
ein allgemeines Programm aufgestellt würde. Diese Erwartungen ent- 
sprechen, wie mir scheint, in erster Linie parteitaktischen Interessen. Daher 
denn auch das weitere Verlangen nach programmatischen Erklärungen 
darüber, auf welche Parteikonstellationen die verbündeten Regierungen sich 
stützen werden. Was für Vorstellungen sind es, welche sich aus diesen 
Fragen ergeben? So entschieden es die Parteien von jeher abgelehnt 
haben und noch ablehnen, Regierungspartei zu sein — ich persönlich kann 
das durchaus verstehen — so wenig wir in Preußen eine Parteiregierung 
sein können ... (Lebhafte Zustimmung rechts, stürmische Unterbrechung 
links. Der Abgeordnete Ledebour ruft: Wir haben ja schon eine konser- 
vative Parteiregierung. Der Präsident mahnt zur Ruhe.) Mit den 
Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, hat noch jeder deutsche Staats- 
mann zu kämpfen gehabt, und an diesem Berhältnis, das in der Eigenart 
unseres Parteiwesens und in unseren staatlichen Institutionen begründet 
ist, hat auch die letzte Krisis keinen Deut geändert. Gewiß, der Radi- 
kalismus hat ein lebhaftes Interesse daran, ganz Deutschland in zwei 
politische Lager zu trennen je nach der Stellung, die die einzelnen Parteien 
zu den einzelnen Teilen der Steuervorlagen und zu den Sleuervorlagen 
überhaupt eingenommen haben. Er macht ausgezeichnete Geschäfte dabei 
Aber dieser Dualismus ist eine Fiktion, die zwar zu Parteizwecken aus- 
genutzt wird, die aber trotz der ersten Erbitterung, die bei uns eingezogen 
ist, auf die Dauer nur festgehalten werden kann, wenn zum Schaden 
unserer politischen Entwickelung große Parteien auf ihre Geschichte, auf 
ihre Tradition und auf ihre Ziele verzichten wollen. Was noch schlimmer 
ist, ich kann keinen Vorteil sehen, den das deutsche Volk davon hätte, wenn 
es gelänge, den Gegensatz, der sich über den neuen Steuern entwickelt hat, 
nun für alle Ewigkeit auf unsere gesamte politische Entwickelung fort- 
wirken zu lassen. 
Eine absprechende Kritik hat die gegenwärtige Situation dadurch 
besonders zutreffend kennzeichnen zu müssen geglaubt, daß sie von einer 
Periode der Stagnation sprach, daß gesagt wurde, den Reichstag würden 
in diesem Winter nur geschäftsmäßige nüchterne Vorlagen und keine Fragen 
von hochpolitischer Bedeutung beschäftigen. Ich sehe nichts, was ein solch 
absprechendes Urteil begründet. Wenn der Reichstag die ihm angekündigten 
Vorlagen erledigt, dann wird er mit Genugtuung darauf zurückblicken, 
reiche Arbeit geleistet zu haben. Und ist es denn richtig, daß diese Vor- 
lagen so geschäftsmäßig nüchtern sind, und jedes politischen Interesses 
entbehren? Wenn man auf manche Stimmen draußen hört, dann gewinnt 
man allerdings den Eindruck, als ob unsere politischen Nerven bereits so 
abgestumpft wären, daß bedeutsame Vorlagen der Sozialpolitik, der Rechts- 
pflege, die Ihnen angekündigt worden sind, Fragen, die jahrzehntelang 
auf das heftigste von den Parteien umstritten worden sind, deren Lösung 
als ein dringendes politisches Bedürfnis bezeichnet wurde — ich sage, man 
gewinnt den Eindruck, als ob Fragen von solcher Bedeutung jedes politische
	        
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