Das Veuische Reich und seine eintelnen Glieder. (Januar 20.) 23
Rücksichtnahme auf die Lohnverhältnisse in der Privatindustrie und der
Landwirtschaft. Die Bahnverwaltung will keine bessern Löhne gewähren,
damit die Privatunternehmer nicht indirekt geschädigt werden. Die Be-
amten werden aufgebessert, aber die Löhne der Werkstättenarbeiter herab-
gesetzt, und um noch weitere Ersparnisse zu erzielen, ersetzte die Bahn-
verwaltung jetzt sogar einen Teil ihrer männlichen durch weibliche Ar-
beiter. Die großen Vermögen werden in Preußen sehr wenig heran-
gezogen; nur 10,8 Prozent des Ertrages der Einkommensteuer wird von
ihnen aufgebracht. Verwahrung legen wir ein gegen die Drohungen des
Finanzministers gegen solche Beamte, die zur Erzielung einer größeren
Gehaltsaufbesserung sich der ihnen verfassungsmäßig zustehenden Rechte
bedienen. Wir hoffen, daß die Beamten sich durch solche Drohungen nicht
abschrecken lassen werden. Die einzigen Bolksvertreier in diesem Hause, die
wirklich diesen Namen verdienen, sind ja doch nur wir Sozialdemokraten.
(Schallendes Gelächter rechts.) Daß wir hier nicht in größerer Zahl sitzen,
liegt an dem Dreiklassenwahlrecht, das 85 Prozent aller Preußen entrechtet.
Das Dreiklassenwahlrecht verkörpert die Klassenherrschaft, die
von der breiten Bevölkerung von Jahr zu Jahr mehr als unerträgliche
Last empfunden wird. Ganz besonders bezeichnend ist es, wie man sich
jetzt der unbequemen Sozialdemokraten zu entledigen sucht. Der Protest
gegen die Wahl der vier Berliner Sozialdemokraten stützt sich besonders
darauf, daß die Aufstellung der Berliner Wählerlisten vom Berliner
Magistrat auf falscher Grundlage erfolgt sei. Wir sehen der Entscheidung
mit aller Ruhe entgegen. Denn was für die vier sozialdemokratischen
Mandate gilt, gilt für die Freisinnigen auch, gilt für sämtliche zwölf
Berliner Mandate. Wenn die Herren annahmen, daß nur gegen die vier
sozialdemokratischen Wahlen ein form= und fristgerechter Protest eingelaufen
sei, so trifft das nicht zu. (Hört, hört! und Zuruf des Abg. Hoffmann:
Wer andern eine Grube gräbt! Heiterkeit.) Mit dieser Legende möchte
ich hier gleich gründlich aufräumen. Es liegt auch ein allgemeiner Protest
gegen alle zwölf Mandate vor. Uebrigens danken wir den Herren für
dieses Vorgehen. Es liefert uns einen zündenden Agitationsstoff.
Preußen ist heute noch eingeschnürt in die Zwangsjacke einer
reaktionär-agrarischen Gesetzgebung, und seine Rückständigkeit lastet
wie ein Alp auf dem ganzen Reiche. Hier im Landtage nimmt man gegen
alle Gesetze zum Wohle der Arbeiter, das Reichstagswahlrecht, das Ko-
alitionsrecht geradezu leidenschaftlich Stellung ein. Damit nicht genug.
In neuerer und neuester Zeit sind hier die Ausnahmegesetze gegen Arbeiter
angekündigt worden, und der Ministerpräsident ist auch prinzipiell kein
Gegner von Ausnahmegesetzen gegen Arbeiter. Er vermißt nur noch die
notwendige Einigung unter den bürgerlichen Parteien. Wir sehen dieser
Aktion mit Ruhe entgegen. Schlimmer als jetzt kann es nicht werden,
wo die Sozialdemokratie bereits von der ganzen Verwaltung als mindern
Rechts erklärt wird. Ich bin nur gespannt, wie sich der linke Flügel des
Blockes zu solchen Maßnahmen verhalten wird. (Zuruf links: Wir haben
uns ja schon erklärt!) Haben die Herren denn an den zwölf Jahren des
Sozialistengesetzes noch nicht genug? Das ist hier ja alles nichts Neues,
aber ich glaube, die heutige Gelegenheit, wo zum ersten Male die Sozial-
demokratie von dieser Stelle aus Gelegenheit hat, die Politik Preußens
im Zusammenhang zu betrachten, benutzen zu sollen, um diese Geschehnisse
in die richtige Beleuchtung zu rücken, wie wir sie sehen.
In einer wohl vorbereiteten Rede sprach im Berliner Rathause der
König von Preußen von der Opferfreudigkeit des Bürgertums für das
Gemeinwohl. Von der Anerkennung solcher Opferfreudigkeit im Dienst