Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

394 Hes Veische Reich und seine einjeluen Glieder. (Dezember 13.) 
geht selbständig seine Wege, einzig und allein beherrscht von der Ueber- 
zeugung, daß seine staatsbürgerlichen und kulturellen Anschauungen einst 
siegreich sein werden. (Lebhafter Beifall links.) 
Abg. Erzberger (Ztr.): Meine politischen Freunde haben die 
Reichsfinanzreform deshalb zustande gebracht, weil die Not des Reiches 
und das Ansehen des Reiches nach innen und außen sie notwendig machte 
und weil ihnen und der konservativen Partei daran lag, eine für die 
ärmeren Schichten des Volkes gerechtere Form der Besteuerung zu finden. 
(Widerspruch links.) Ihr Widerspruch beweist, mit welcher Leichtfertigkeit 
von Ihnen über die Reichsfinanzreform überhaupt gesprochen wird. Der 
Abg. Müller (Meiningen) sprach immer von 500 Millionen neuer indirekter 
Steuern. Es sind doch überhaupt nur 420 Millionen neuer Steuern be- 
willigt worden. Im Lande mag man so etwas sagen, aber hier im Hause 
ist es der Höhepunkt der Verdrehungen. Es ist ganz falsch, daß wir direkte 
Steuern nicht bewilligt hätten. Der Antrag Herold scheiterte jedoch vor- 
wiegend an dem Widerspruch der Liberalen, die alles mobil gemacht haben, 
um den Antrag zu Fall zu bringen. In meiner Broschüre habe ich aus- 
gesprochen, das Zentrum könne keine neue Steuer bewilligen, ehe die 
Branntweinsteuer reformiert sei. Die Branntweinsteuer ist aber reformiert 
worden. (Lachen links.) Die süddeutschen Brenner haben uns in zahlreichen 
Zuschriften bestätigt, daß kein Gesetz ihre Interessen besser hätte vertreten 
können als dieses. Sie (links) sprechen immer von der Abschaffung der 
Liebesgabe. Haben Sie denn überhaupt die restlose Abschaffung der Liebes- 
gabe im Auge gehabt? Der Abg. Müller hätte doch den Familiensinn, von 
dem wir bei der Erbschaftssteuer sprachen, nicht so verspotten sollen. Er 
sagte 1906, eine solche Besteuerung der Deszendenten enthalte einen Ein- 
riff in die Familieneinheit; ähnlich äußerte sich der Abg. Wiemer, und 
im Jahre 1908 sagte ein freisinniger Abgeordneter, eine solche Steuer sei 
eine offizielle Verhöhnung des Schmerzes der Leidtragenden. Das war 
der Abg. Müller (Meiningen). Der Bundesrat hat mit der Mehrheit die 
Finanzreform angenommen, er hat sie also im Interesse des Reiches für 
einen Fortschritt angesehen. Im Punkte der Scheckgebühr ist in Württem- 
berg die elendeste schwindelhafteste Agitation bei den Wahlen getrieben. 
worden; es wurde bis zum Ueberdruß behauptet, daß die Scheckgebühr 
von jedem, auch dem kleinsten Sparkasseninteressenten bei Ein= oder Aus- 
zahlung zu zahlen sei. Die württembergische Regierung läßt heute er- 
klären, sie hätte deshalb nicht sofort die richtige Antwort geben können, 
weil Zweifel über die Auslegung der Frage bestanden hätten. Das ist 
ein schlechtes Kompliment für den Bundesrat. Es steht doch fest, daß die 
Sparkassen, welche die passive Scheckfähigkeit haben, nicht unter das Gesetz 
fallen; noch gibt es aber in Württemberg keine Sparkasse ohne diese passive 
Scheckfähigkeit. Das hätte doch alsbald der jüngste Hilfsarbeiter heraus- 
finden müssen, und daß es nicht geschehen, ist eine der vielen Unbegreiflich- 
keiten des letzten Sommers. In der Budgetkommission ist heute früh durch 
die Erklärung der Vertreter des Reichsschatzamtes auch der letzte Zweifel 
behoben worden. Wehren wir uns jetzt gegen diese durch und durch un- 
ehrliche Agitation, so wird uns das noch übel genommen! Daß das Zentrum 
mit unzufriedenen Wählerkreisen zu rechnen hatte, stimmt nicht; ich ver- 
weise bloß auf die Stadtratswahlen in Köln. Die Liberalen sollen aber 
denken an die Verluste von Koburg und Halle; die Hasen, die sie auf- 
jaßen, laufen nicht in die liberale Parteiküche, sondern weiter links. Wir 
sollen eine junkerliche Partei sein, ganz Deutschland soll von Junkern re- 
giert sein. Wie kann man mit solchen Behauptungen im Deutschen Reichs- 
tag kommen, daß 3000 Junker 60 Millionen beherrschen! Das wäre das
	        
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