Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

432 IEIIIIIIIIIIIIII 
makedonische Justizreform verhandelte und damit das Mürzsteger Programm 
durchbrach, war Aehrenthals Gegenschlag die Einleitung der Sandschakbahn- 
Aktion ohne vorherige Mitteilung an Iswolski. Am 19. Juni 1908 richtete 
Iswolski einen Brief an Aehrenthal, worin er gegen den Bau der Sand- 
schak--Bahn keine Einwendungen mehr erheben wollte, wenn Oesterreich dem 
Bau der Adria--Bahn zustimmte und zugleich ein gemeinsames Vorgehen zur 
Abänderung des Berliner Vertrages in dem Sinne vorschlug, daß Ruß- 
land die freie Durchfahrt durch die Dardanellen, Oesterreich-Ungarn aber 
die Annexion von Bosnien und der Herzegowina erlangen sollte. Dem 
stimmte Aehrenthal zu und eröffnete im September 1908 zu Buchlau dem 
russischen Minister Iswolski seine Absicht, den im Oktober in Wien zu- 
sammentretenden Delegationen die Souveränitäts-Erklärung vorzulegen, 
wozu Iswolski allerdings den Vorbehalt machte, daß die notwendige Ab- 
änderung des Berliner Vertrages durch eine internationale Konferenz vor- 
zunehmen sei. Kaum hatte aber am 5. Oktober 1908 in Wien die offizielle 
Angliederung Bosniens und der Herzegowina stattgefunden, als Iswolski 
bei seiner Reise nach Paris und London sich überzeugen muße, daß England 
angeblich aus Rücksicht auf die befreundete junge Türkei den Dardanellen- 
plan entschieden ablehnte. Damit begann das diplomatische Duell zwischen 
Iswolski und Aehrenthal, in dem der letztere durch die Drohung siegte, 
das Buchlauer Protokoll zu veröffentlichen. 
7. Oktober. (Wien.) Bei der Bürgerbeeidigung weist der 
Bürgermeister Dr. Lueger alle Bestrebungen, Wien für zweisprachig 
zu erklären, zurück. 
Bei der Zulassung dieses Prinzips müßte Wien eigentlich neun- 
und mehrsprachig werden, was nicht anginge. Er werde streng darauf 
sehen, daß Wien seinen deutschen Charakter aufrecht erhalte und in seiner 
Verwaltung nur die deutsche Sprache zulasse. 
8. Oktober. (Wien.) Deutsch-österreichisches Bündnis. 
In der Sitzung des Gemeinderats führte Bürgermeister Dr. Lueger 
aus: Am gestrigen Tage waren es dreißig Jahre, daß das Bündnis mit 
dem Deutschen Reiche geschlossen wurde. Dieses Bündnis hat sich während 
der ganzen Zeit seines Bestandes als eine der segensreichsten Institutionen 
erwiesen. Wir alle gedenken noch dankbar an die Wirkung, die das Bündnis 
speziell dahin gehabt hat, daß ein Krieg in der letzten Zeit vermieden wurde. 
Der Bürgermeister erbat sodann die Ermächtigung, aus diesem Anlaß dem 
Kaiser die alleruntertänigste Huldigung darbringen und gleichzeitig dem 
Wunsche Ausdruck geben zu dürfen, daß dieses Bündnis für immerwährende 
Zeiten erhalten bleiben möge. (Lebhafter Beifall. Die Gemeinderäte 
erhoben sich von den Sitzen.) 
13. Oktober. Professor Wahrmund. 
Der Verwaltungsgerichtshof weist dessen Beschwerde wegen der Be- 
hinderung seiner Seminarübungen an der Universität Innsbruck als un- 
begründet ab. Wahrmund wurde nach Prag versetzt. 
15. Oktober. Ferrer-Begeisterung. 
Die von den deutschen und tschechischen Freidenkerverbänden auf 
Sonntag, den 17. Oktober, anberaumte Trauerversammlung für Ferrer 
wird verboten. Im Triester Landtag erzwingen die Liberalen durch Ver- 
lassen des Saales zum Zeichen der Trauer den Schluß der Sitzung.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.