36 HNs Vetsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 25./26.)
hütung der anstößigen, nackten Wahrheit einige dürftige Mäntelchen um
die Gestalt herumdrapiert. (Sehr richtig! bei den Freisinnigen.) Politische
Bildung besteht hauptsächlich darin, daß jemand ein selbständiges Urteil
hat. Den Mangel an selbständigem Urteil findet man aber häufig bei
Leuten, denen man die Bildung nicht absprechen kann. Wir sind zur
Mitarbeit an den schweren Aufgaben unserer Zeit ausdrücklich aufgerufen.
Ich frage Sie: Ist es nicht ein Gebot ausgleichender Gerechtigkeit, den
Leuten, die durch die Lasten der Steuern am meisten gedrückt werden,
wenigstens eine Zulage zu ihren Rechten zu geben, so daß dem Mehr an
Lasten auch ein Mehr an Rechten gegenübersteht? Ein geistreicher Mann
hat einmal erklärt, die Grundlage des Konstitutionalismus sei das Miß-
trauen. Es ist vielleicht nicht richtig, dieses Mißtrauen ohne weiteres zu
unterdrücken. Eine fruchtbare Grundlage läßt sich aber doch nur schaffen,
wenn Vertrauen zwischen Regierung und Volksvertretung besteht. (Sehr
richtig! bei den Freisinnigen.) Erschüttern Sie daher das Vertrauen zu
der Regierung wenigstens nicht im Fundament. (Sehr richtig! bei den
Freisinnigen.) Das Wahlrecht ist das Fundament unsers ganzen politischen
Lebens, und wenn wir bereit sind, auf andern Gebieten mit Ihnen zu
arbeiten, so arbeiten Sie auf diesem Gebiete mit uns zum Wohle des
Vaterlandes, zu unserer aller eigenem Besten! (Lebhafter Beifall links.)
Inzwischen ist folgender Antrag der Nationalliberalen Hobrecht-
Friedberg eingegangen: Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen, für
den Fall der Ablehnung des Antrages Aronsohn die Regierung zu er-
suchen, mit tunlichster Beschleunigung einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch
den 1. das Wahlrecht zum Abgeordnetenhause in einer Weise abgestuft
wird, die der Bedeutung der Einzelpersönlichkeit und der kulturellen, wirt-
schaftlichen und sozialen Entwickelung unseres Volkes gerecht wird, 2. in
das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus die geheime Stimmenabgabe ein-
gefügt, und in ihm 3. das indirekte durch das direkte Wahlverfahren
ersetzt, 4. eine Veränderung der Landtagswahlkreise insoweit vorgenommen
wird, als durch Umwälzung der wirtschaftlichen und Bevölkerungsverhält-
nisse eine wesentliche Verschiebung der für die bisherige Einteilung der
Wahlkreise maßgebenden Grundlagen eingetreten ist.
Switala (Pole): Wir verlangen das allgemeine, geheime und direkte
Wahlrecht im Interesse von Land, Volk und Krone. (Beifall der Polen.)
Herold (Zir): Der Minister hat uns die wichtige Mitteilung
gemacht, daß statistische Erhebungen stattfinden. (Heiterkeit.) Der Reichs-
kanzler hat uns im vorigen Jahre zwar auch nichts Positives gesagt, aber
er hat doch wenigstens einige negative Bemerkungen gemacht. Er sagte,
das Reichstagswahlrecht würde nicht eingeführt werden und das geheime
Wahlrecht auch nicht. Der damalige Minister des Innern, Herr v. Beth-
mann Hollweg, hat bei jener Gelegenheit eine schöne, lange und geistreiche
Rede gehalten, aber darüber, wie das Wahlrecht gestaltet sein soll, hat er
auch nichts gesagt. Er sprach von den Kräften, die das Volk emporziehen
sollen. Nach unserer Meinung liegen diese Kräfte vorxnehmlich im Christen-
tum, hier aber handelt es sich um politische Maßnahmen, um die untern
Volksschichten in ihrer Stellung zu heben. Das geschieht aber nicht, wenn
man ihnen möglichst wenig Rechte zuweist. (Sehr richtig!) Im Drei-
klassenwahlrecht entscheidet der Besitz ganz allein und damit auch der eng-
herzige Egoismus jener Leute, die nur Reichtum auf Reichtum häufen
wollen, die geistigen Kräfte bleiben ganz unberücksichtigt. Wenn man das
Volk emporziehen will, muß man die geistigen Kräfte mindestens mit dem
Besitze gleichstellen. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, haben wir das
Dreiklassenwahlrecht verworfen. Es ist geradezu eine Karikatur, deren