504 Frankreich. (Juni 18.—21.)
im Lande. Gauthier de Clagny bezeichnet die Politik der Regierung
als ziellos und grundsatzlos, einmal bekämpfe sie die Sozialisten, ein an-
deres Mal lade sie sie zur Mitarbeit ein. Im Kabinett selbst machten sich
sozialistische Einflüsse geltend, daher auch seine flaue Haltung gegenüber
den Syndikaten der Postbeamten und der Lehrer. Gegenüber seiner radi-
kalen Mehrheit übe der Ministerpräsident eine wirkliche Diktatur aus.
Auch sie habe weder ein Programm noch ein Ziel der Politik. Etwas
höflicher in der Form macht der Redner dem republikanischen Parlamen-
tarismus denselben Prozeß wie der Vorredner und gibt ihm in derselben
Weise für die Erscheinungen der letzten Zeit, wie Beamtenbewegung, Miß-
stände in der öffentlichen Verwaltung usw., die Verantwortung. Ein Re-
giment der Ohnmacht, der Bestechung und der Anarchie, das ist nach dem
Redner das Regiment von heute. Für den Kampf gegen die Kirche habe
es noch zusammengehalten; jetzt, wo es sich um soziale und finanzielle
Reformen handle, sei es vorbei damit. Der Redner kritisiert im einzelnen
das gesetzgeberische Werk der gegenwärtigen Kammer in dem Sinne, daß
es ebenfalls nichts wert sei, und fordert endlich gegen die drohende Gefahr,
daß das Land entweder einer neuen Revolution oder dem Cäsarismus in
die Hände falle, eine Revision der Verfassung als einziges Heilmittel.
18. Juni. (Kammer.) Budget und Steuerfragen.
Der Finanzminister Caillaux bringt das Budget für 1910 ein,
das nach verschiedenen Abstrichen nur noch einen Fehlbetrag von 105 Mil-
lionen Franken aufweist. Davon will der Minister 45 Millionen auf das
nächste Budget (1913) übernehmen, so daß noch 60 Millionen zu decken
bleiben. Von diesen sollen 10 Millionen eingebracht werden durch Ver-
schärfung der verschiedenen kleinen Steuern, hauptsächlich der Plakat= und
der Quittungssteuern, 9 Millionen durch eine Steuer von 5 Centimes für
das Liter Petroleum, das für Automobilzwecke verwandt wird, 10 Millionen
durch Aenderung der Hundesteuer, 7 Millionen durch die gleichmäßige Be-
handlung der Kolonialwerte mit den französischen Werten. Schließlich
sieht der Entwurf eine Abgabe auf das Kapital vor, das durch die Erb-
schaftserklärung zum Vorschein kommt. In der Begründung führt der
Finan zminister aus, die Steuern, welche die Erbschaften in England
trügen, seien viel schwerer und würden in Zukunft noch viel schwerer sein
als die Steuern, die die Erbschaften in Frankreich zu tragen hätten. Die
Regierung wolle sich in dieser Form die 100 bis 120 Millionen verschaffen,
die sie zur Verwirklichung der Vorlage über die Altersrenten der Arbeiter
brauchen werde. Aber es genüge nicht, einfach neue Steuern auszuschreiben,
man müsse auch so zu Werke gehen, daß das Steuerobjekt nicht entschlüpfen
könne. Nun gestatteten gewisse Bestimmungen des Zivilrechts gewisse Ge-
wohnheiten: die Verheimlichung und die „Flucht“ von Wertpapieren. Um
hier Abhilfe zu schaffen, habe er, der Finanzminister, im Einvernehmen
mit dem Justizminister eine Abänderung des Zivilrechts ins Auge gefoßt,
namentlich dahin, daß die Inventaraufnahme nach jedem Todesfall ver-
bindlich werde. Ebenso soll das Erbrecht bezüglich der im Auslande hinter-
legten Wertpapiere eine Abänderung erfahren.
20. Juni. Bei den Rennen in Auteuil kommt es bei einer
Unterbrechung infolge eines Streikes der Stalljungen zu wilden
Ausschreitungen des Publikums.
21. Juni. Zuschläge zur Erbschaftssteuer.
Das der Kammer vorgelegte Budget für 1910 stellt folgende Sätze
auf: ½% % bis zu 100000 Franks, darüber 1% bis 2,5% N steigend um je