Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

526 Italien. (Juni 23.) 
strikte Pflicht, indem ich ebenso handle. Die Worte Morgaris verdienen 
keinerlei Beachtung. Gegen diese Worte protestiert lebhaft gleich mir die 
Mehrheit des Hauses und des Landes, das weiß und begreift, daß es 
keine auswärtige Politik mehr geben würde, wenn die Beziehungen zu 
andern Staaten der Zuneigung oder Abneigung gegenüber ihrer innern 
Politik untergeordnet würden. Wir haben ausgezeichnete Beziehungen zu 
Rußland und wünschen nicht nur, daß sie so bleiben, sondern wollen sie 
wirksam machen und immer mehr entwickeln. Wenn der Zar nach Italien 
kommt, wird er ein willkommener Gast sein, und wir werden ihn empfangen 
und begrüßen als das Oberhaupt eines befreundeten Staates. Daher er- 
kläre ich im Namen der Regierung, daß wir keine Aufforderung annehmen 
und keine Drohungen fürchten. Wir werden unsere Pflicht tun gegen 
jedermann.“ Der Minister erklärt schließlich, daß er die Tagesordnung 
Morgari infolge seiner Ausführungen nicht annehmen könne, und wenn 
Morgari sie aufrecht erhalten sollte, werde er die Kammer bitten, sie ab- 
zulehnen. 
Die Sitzung wurde alsdann aufgehoben. Nach einer Rede des 
Berichterstatters Demarinis wurde beschlossen, über die Tagesordnung 
Morgari namentlich abzustimmen. Die von der Regierung bekämpfte 
Tagesordnung wurde mit 205 gegen 27 Stimmen bei drei Stimm- 
enthaltungen abgelehnt. 
In der Nachmittagssitzung wurde die Verhandlung über das Budget 
des Ministeriums des Auswärtigen fortgesetzt. Nachdem der Minister des 
Auswärtigen Tittoni auf die Ausführungen verschiedener Redner er- 
widert hat, betont er, daß in diesen Ausführungen nur gelegentlich von 
der internationalen Politik die Rede gewesen sei. Das sei natürlich, denn 
wenn man verstehe, daß ein Land aus Anlaß ernster Ereignisse die Ziele 
und Ergebnisse seiner auswärtigen Politik prüfe und erörtere, so würde 
man nicht begreifen, wenn es ohne Not bei jeder Gelegenheit auf diese 
seine Politik zurückkommen wollte, um zu sehen, ob es sich empfehle, ihre 
Grundlagen und ihre Richtung zu ändern; man würde an der Klugheit 
eines Landes zweifeln, das so handeln wollte. So sei die große Verhand- 
lung vom Dezember vorigen Jahres nicht nur notwendig, sondern un- 
vermeidlich gewesen und man habe ihm, Tittoni, zu Unrecht einen Vor- 
wurf daraus gemacht, daß er sie entschlossen gewünscht habe. Aber heute 
stelle sich die Lage ganz anders dar. Die seitherigen Ereignisse hätten ein 
helles Licht auf Tatsachen geworfen, die zuerst nicht in der richtigen Be- 
leuchtung erschienen seien und an deren Verdunkelung manche Leute zu 
verschiedenen Zwecken gearbeitet hätten. Er habe im Dezember des längern 
von den Beziehungen Italiens zu Rußland und von dem italienischen 
Programm im europäischen Orient gesprochen; weder hier noch dort 
sei eine Aenderung eingetreten. Sodann führte der Minister aus: Die 
Begegnung von Baja und die patriotischen Kundgebungen aus Anlaß der 
Wiederkehr der glorreichen Tage unserer nationalen Erhebung sind neue 
Beweise unserer ausgezeichneten Beziehungen zu den befreundeten Nationen 
England und Frankreich. Desgleichen haben die Begegnungen von 
Brindisi und die zwischen den Kaisern von Deutschland und Oesterreich 
und dem König von Italien gewechselten herzlichen Telegramme die un- 
erschütterliche Festigkeit des Dreibundes bewiesen. Man hat 
davon gesprochen, als ob diese Ereignisse bestimmt wären, sich gegenseitig 
zu neutralisieren und ihre Wirkung gegenseitig zunichte zu machen. Nichts 
ist falscher als das. Diese Ereignisse neutralisieren sich nicht, sondern 
treten hinzu zueinander und ergänzen sich. Es ist seltsam, daß die Politik 
der Bündnisse und Freundschaften, die im Ausland von den Verbündeten
	        
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