Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Rißlani. (Juni 18. 20.) 569 
überlieferter und herzlicher Freundschaft, die sowohl zwischen den beiden 
regierenden Häusern als auch persönlich zwischen den Herrschern bestehen; 
dies erhellt deutlich aus den ausgetauschten Trinksprüchen, in denen beide 
errscher in diesen Beziehungen ein Unterpfand des zwischen ihren beiden 
ändern bestehenden guten Verhältnisses und des allgemeinen Friedens er- 
blickt haben. Bei den Unterredungen der Staatsmänner, welche die Kaiser 
begleiten, sind selbstverständlich die verschiedenen schwebenden politischen 
Fragen berührt worden. Dabei wurde festgestellt, daß zwischen Rußland 
und Deutschland keinerlei gegensätzliche Auffassungen dieser Fragen bestehen, 
und daß beiderseits aufrichtig die Fortsetzung und Befestigung der guten 
Beziehungen zwischen beiden Ländern gewünscht wird. Zugleich wurde an- 
erkannt, daß die internationalen Abmachungen, an denen Rußland und 
Deutschland beteiligt sind, diesen guten Beziehungen keineswegs entgegen- 
stehen, und daß beide Seiten sich in dem Bestreben begegnen, zur friedlichen 
Lösung jeder etwa auftauchenden politischen Frage beizutragen. 
18. Juni. Weiterer Verlauf der Kaiserbegegnung. 
Im Laufe des Vormittags begibt sich der Zar in deutscher Marine- 
uniform auf die „Hohenzollern“ und von dort mit dem Kaiser auf den Kreuzer 
„Gneisenau“. Kaiser Wilhelm trägt russische Admiralsuniform. Die Mon- 
archen schreiten auf der „Gneisenau“ die Front der Mannschaften ab, die der 
Kaiser von Rußland in deutscher Sprache begrüßt. Es folgen Bordmanöver, 
der Besuch der Kajüten und des Maschinenraums. Der Kaiser von Ruß- 
land überreicht den Offizieren und Mannschaften Auszeichnungen. Hierauf 
begeben sich die Majestäten auf das Torpedoboot „Finn“, wo der Deutsche 
Kaiser die Mannschaften in russischer Sprache begrüßt, das Torpedoboot 
genau besichtigt und den Offizieren Orden überreicht. Alsdann fahren 
die Monarchen nach der Kaiserjacht „Standart“. Hier wohnt Kaiser Wilhelm 
dem Gottesdienst anläßlich des Geburtstages der Großfürstin Anastasia bei. 
Die beiden Kaiser sowie die Kaiserin Alexandra begeben sich darauf zur 
„Hohenzollern", wo um 1 Uhr das Frühstück eingenommen wird. Kaiser 
Wilhelm bringt einen Trinkspruch auf die Kaiserin Alexandra aus. Später 
treffen der Thronfolger und seine Schwestern auf der „Hohenzollern“ ein. 
Kaiser Wilhelm begrüßt sie herzlich. Den Thronfolger hebt er hoch und 
küßt ihn. Bis zur Abfahrt des Geschwaders verweilt das russische Kaiser- 
paar mit seinen Kindern auf der „Hohenzollern“. Beim Abschied küßt der 
Zar den Deutschen Kaiser dreimal. Unter den Klängen der russischen 
Nationalhymne verläßt das Zarenpaar mit den Kindern die „Hohenzollern“. 
Vom „Standart“ erklingt die deutsche Nationalhymne. Von allen Seiten er- 
schallen Hurrarufe. Nachdem die russischen Majestäten an Bord der Jacht 
„Standart“ angekommen waren, feuert der Kreuzer „Gneisenau“ den Ab- 
schiedssalut. Die „Hohenzollern“ lichtet die Anker und setzt sich in nördlicher 
Richtung in Bewegung, gefolgt von dem Depeschenboot „Sleipner“. Auf 
den Schiffen der beiden Geschwader stehen die Mannschaften in Parade. 
Als die „Hohenzollern“ am „Standart" vorüberdampft, nimmt Kaiser Wilhelm, 
der auf der Kommandobrücke steht, die Mütze ab und winkt dem Zaren- 
paar einen Abschiedsgruß zu, den die Kaiserin und die kaiserlichen Kinder 
durch Winken mit Taschentüchern erwidern. Der „Standart" und der „Polar- 
stern“ geben den Abschiedssalut, der sich mit den Hurrarufen der Mannschaften 
und den Klängen der deutschen Nationalhymne vermischt. Beim Vorüber- 
fahren am „Polarstern" ruft Kaiser Wilhelm einen russischen Gruß hinüber. 
W. Juni. Professor Friedrich von Martens, ständiges 
Mitglied des Conseils der Auswärtigen Angelegenheiten und Ruß-
	        
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