Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

576 Türtei. (Januar 16.) 
sammentritt einer Konferenz verlangt, um über die bulgarische Angelegenheit 
eine Entscheidung herbeizuführen. Die Großmächte haben anerkannt, daß 
diese Verletzungen illegal seien, mit dem Berliner Vertrag im Widerspruch 
ständen, und sowohl Bulgarien als auch Oesterreich-Ungarn Ratschläge 
erteilt. Es wurde von den Mächten anerkannt, daß es sich bei der Wieder- 
erlangung dieser Rechte um eine Angelegenheit handle, die die Türkei be- 
trifft, und daß der Beistand der Mächte sich auf diplomatische Schritte be- 
schränken würde. Ferner zogen die Mächte die Schwierigkeiten in Betracht, 
die sich ergeben würden, wenn die befreundeten Mächte es unternehmen 
würden, die vollendete Tatsache mit der Lage und den Interessen der Türkeie 
in Einklang zu bringen. Aus diesen Gründen fanden sie, daß es vor- 
zuziehen sei, ein Abkommen durch geldliche Entschädigungen zu 
suchen, und haben diese Art der Beilegung der Angelegenheiten empfohlen. 
Da aber die österreichisch-ungarische Regierung, die die Räumung des 
Sandschaks Nowibasar für eine hinreichende Entschädigung betrachtete, sich 
nicht darauf einließ, andere Entschädigungen zu bewilligen, so hatten wir 
beschlossen, daß zur Herbeiführung eines gerechten Einvernehmens mit der 
genannten Macht wir unsern Protest aufrecht erhalten, Bosnien und die 
Herzegowina als unter der Okkupation und provisorischen Verwaltung 
Oesterreich-Ungarns stehend betrachtet werden, und daß jene Personen, die 
aus diesen beiden Wilajets kämen, wie andere türkische Untertanen be- 
handelt werden sollten. Schon vor der Proklamierung der Unabhängigkeit 
Bulgariens wurde die bulgarische Armee auf Kriegsstand gesetzt, und nachher 
haben wir wahrgenommen, daß Bulgarien große Kriegsvorbereitungen durch 
Truppen= und Munitionstransporte treffe. Um bis zu einem gewissen 
Grade die Verteidigung sicherzustellen, wurde die für einen etwaigen An- 
griff genügende Macht vorbereitet. Indem wir aber dem Umstande Rech- 
nung trugen, in welche Lage das Land kommen würde, wenn wir uns in 
einen Krieg einließen, und angesichts des Umstandes, daß die Bulgaren 
betonten, Bulgarien würde die Unabhängigkeit nicht mit Geld, sondern mit 
Blut erkaufen, wandten wir uns an die Mächte mit der Bitte, der bul- 
garischen Regierung wirksame Ratschläge im Sinne einer friedlichen Bei- 
legung der Angelegenheit zu erteilen. Die Mächte machten unverweilt der 
bulgarischen Regierung Eröffnungen, worauf die bulgarische Armee de- 
mobilisiert wurde. In den Verhandlungen mit dem Handelsminister Liap- 
tschew gelangte man nach verschiedenen Berechnungen zu einem kapitali- 
sierten Betrage von etwa 28 Millionen Pfund. Liaptschew erklärte jedoch, 
daß Bulgarien keine Verpflichtung zur Zahlung eines Tributs noch auch 
für die Zahlung eines Beitrages zur Staatsschuld habe. Was die Zahlung 
für Ostrumelien betrifft, verkürzte es die Summe auf 114000 Pfund und 
gelangte unter Berechnung des Wertes der okkupierten Eisenbahn und 
anderer Forderungen zu einem schließlichen Angebot von 82 Millionen 
Franken. Da uns die Annahme dieses Modus unmöglich war, haben wir 
die Beilegung der zwischen beiden Parteien bestehenden Streitigkeiten einer 
Konferenz überlassen und die Verhandlungen geschlossen.“ 
Nachdem der Großwesir seine Rede beendet hatte, spricht die Kammer 
ihm ihr unbedingtes Vertrauen aus. 
16. Januar. (Saloniki.) Eine von den Professoren und Stu- 
denten der Rechtsschule veranstaltete Versammlung protestiert gegen 
die Angliederung Kretas an Griechenland. Etwa fünf- 
tausend Menschen nehmen daran teil, und etwa tausend Türkinnen 
hören aus der Entfernung den Reden zu.
	        
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