Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Lebersiht über die politische Eutwichelung des Jehres 1900. 693 
Ohne diese Bruchteile wären auf beiden Seiten 178 Stimmen ge- 
zählt worden. Bis zum letzten Moment war daher das Schicksal 
der Vorlage völlig unentschieden. Die logische Schwäche des 
Majoritätsprinzips trat also an diesem kritischen Tage recht deutlich 
hervor. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die Nachrechnung, 
daß hinter den Parteien der Mehrheit nur rund 4 Millionen, hinter 
denen der Minderheit aber 7 Millionen Wähler standen. Nach 
ihren eigenen früheren Auslassungen hatten die Konservativen und 
das Zentrum kein Recht, sich auf die Anschauung des Volkes zu 
berufen, daß das Eigentum der Familie gehöre. 
Die beiden anderen Faktoren der gesetzgebenden Reichshoheit, 
d. h. der Kaiser und der Bundesrat, waren also vor die Entscheidung 
gestellt, ob sie das Werk der legalen Mehrheit des Reichstages an- 
nehmen wollten oder nicht. Mit der Annahme war zugleich der 
Rücktritt des Reichskanzlers entschieden. Einmütig entschlossen sich 
die verbündeten Regierungen, dem Zwange, die Einnahmen des 
Reiches zu festigen und zu vermehren, nachzugeben, weil bei der 
Stellung der Parteien das Zustandekommen einer besseren Reform 
von einem neu gewählten Reichstag nicht mit Sicherheit zu erwarten 
war. Während den Vermutungen, daß zwischen den Mitgliedern 
des Bundesrats und Fürst Bülow sachliche Meinungsverschieden- 
heiten und persönliche Differenzen bestanden hätten, durch eine ein- 
mütige Erklärung des Bundesrats entgegengetreten wurde (S. 249), 
kam das Kompromiß zwischen der Reichsregierung und dem schwarz- 
blauen Block zustande, das die Finanzreform abschloß und den 
Rücktritt des Fürsten Bülow unmittelbar nach Schluß des Reichs- 
tages am 14. Juli zur Folge hatte. Der Zentrumspartei war es 
geglückt, die Ausgestaltung der Finanzgesetze zur Auflösung des 
liberal-konservativen Blocks zu benutzen. Den Konservativen fiel 
aber infolge ihres Uebertritts zu dem neuen Bündnis die moralische 
Verantwortlichkeit zugleich für den Sturz des Fürsten Bülow und 
für die Wiedereinsetzung des Zentrums in die Stellung der aus- 
schlaggebenden Partei zu. 
Der Entscheidung im Reichstag und Bundesrat folgte ein 
Entrüstungssturm in der öffentlichen Meinung Deutschlands. Die 
Gründung des Hansabundes für Gewerbe, Handel und Industrie
	        
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