106 Venische Reith und seine einjelnen Slieder. (Februar 5.)
brennender Scham und heißer Empörung könne man die unerhört eng-
herzigen, ausgeklügelten Bestimmungen verfolgen, mit denen Herr v. Beth-
mann Hollweg das preußische Volk zu „politischem Verständnis“, „zur
Staatsgesinnung“ und zu „politischem Verantwortlichkeitsgefühl“ zu er-
ziehen gedenke“ Die „Liberale Korrespondenz“ führt aus: „Die stärksten
Bedenken müssen die Vorschläge zur anderweitigen Einteilung der Klassen
erwecken. Den Schulzeugnissen wird eine fast komisch anmutende Ueber-
schätzung zugemessen, wenn bestimmt wird, daß Männer mit dem Einjährigen-
zeugnis und akademisch voll ausgebildete Leute stets in den höheren Klassen
wählen sollen. Diese Bestimmung bedeutet eine durch nichts gerechtfertigte
Benachteiligung der Handwerker, der Gewerbetreibenden, der Bauern, die
keine höhere Schule durchgemacht haben, aber vielfach an Lebenserfahrung
und politischem Verständnis hoch über den Männern mit dem Einjährigen-
zeugnis stehen. Die Bestimmmung bedeutet ferner — und das ist fast noch
bedenklicher — eine Degradierung der dritten Klasse zur reinen Proletarier-
klasse, während die zweite und die erste Klasse fast ganz den oberen Schichten
vorbehalten bleiben. Dadurch charakterisiert sich das neue Wahlrecht als
ein Gesetz zur möglichsten Beschränkung der Sozialdemokratie. Ein Wahl-
recht aber, das dieser Partei den Eintritt in das Abgeordnetenhaus aufs
höchste zu erschweren strebt, kann nur die größte Erbitterung und Staats-
feindschaft erzeugen.“ Die „Straßburger Post“ bezeichnet die Vorlage
als eine tiefe Verbeugung der preußischen Regierung vor der konservativen
Macht, die lebhaft an den Gang durch das kandinische Joch gemahne, den
der heutige preußische Ministerpräsident bereits einmal als Reichskanzler
bei Hergabe seiner Unterschrift unter die Finanzreform getan habe. Mo-
ralische Eroberungen werde die Regierung mit dieser Politik der Rücksicht-
nahme auf konservative Forderungen weder in Preußen noch im Reiche
machen.“ Die „Kölnische Zeitung“ schreibt: „Die Reform ist unzuläng-
liches Stückwerk, die Resorm will ernstlich gar nichts an der Bevorzugung
des platten Landes und der in Preußen herrschenden konservativen Partei
ändern. an vielen Punkten will sie das agrarische Uebergewicht sogar noch
verstärken. Den Nationalliberalen geht es gegen den Strich, eine Reform
zu loben, deren Urheber von der Vorzüglichkeit des Dreiklassenwahlrechis
überzeugt sind. Der Liberalismus wenigstens sollte es ablehnen, eine Vor-
lage zu loben, die auf diesem Boden bleibt und nur schüchtern hier und
da Besserungsversuche anbringt. Aber auch diese Besserungsversuche sind
keineswegs nach dem Sinne der Liberalen, ihnen durchaus nicht auf den
Leib geschnitten, sondern in Berücksichtigung der konservativen, besser der
agrarischen Wünsche ausgedacht.“
5. Februar. Konservativer Parteitag in Hildesheim.
Herr v. Bodelschwingh-Schwarzenhasel tadelt, daß Herr v. Oldenburg
mit seinem Ausspruche vom 29. Januar der Sozialdemokratie Hetzmaterial
geboten habe, und bedauert, doß nicht gleich nach Herrn v. Oldenburg
aus der konservativen Fraktion heraus eine Richtigstellung erfolgt sei und
daß nicht naträglich die „Konserv. Korresp.“ eine offene Mißbilligung des
Ausdrucks veröffentlicht habe.
5. Febrnar. (Reichstag.) Annahme des Gesetzentwurfes
über die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika in allen drei Lesungen.
Staatssekretär Delbrück bringt die Vorlage ein und gibt eine
Uebersicht über die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten. Das
gegenwärtige Abkommen räumt Deutschland alle Zollermäßigungen ein,