Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

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Ministerpräsident v. Bethmann Hollweg (von den Sd. mit Pfui- 
rufen und Zurufen: Volksverräter! empfangen, auf welche von der rechten 
Seite des Hauses mit stürmischen Rufen: raus! geantwortet wird. Vize- 
präsident Dr. Porsch: Ich bedaure es, daß einem Mitgliede der königlich 
preußischen Staatsregierung ein solcher Empfang zu teil geworden ist.) 
Mit Ihrer Uebereinstimmung soll nach der Ankündigung der Thronrede 
vom 20. Oktober 1908 durch das Ihnen vorgelegte Wahlgesetz das Wahl- 
recht zum Hause der Abgeordneten auf den auf der Verfassung beruhenden 
Grundlagen organisch fortgebildet werden. Ebenso wie damals lehnt es 
auch heule die Staatsregierung ab, diese Grundlagen zu verlassen. Sie 
läßt sich in diesem Entschlusse auch nicht wankend machen durch die Kritik, 
die vorweg an diesem Gesetzentwurfe geübt worden ist. Die Staats- 
regierung hat den Entwurf eingebracht, keiner Partei zu Liebe oder zu 
Leide. Sie läßt sich hierin auch nicht von Strömungen der Oeffentlichkeit 
leiten, sei es, daß diese eine radikale Reform fordern oder jede Aenderung 
entschieden ablehnen. Sucht nach Popularität wird keinen Schritt der 
Regierung bestimmen. Das will ich auch denen gesagt haben, die hinter 
meinem Bestreben, die Sache sachlich zu behandeln, Aengstlichkeit und Un- 
sicherheit wittern. Aber noch einer anderen Vorstellung muß ich von vorn- 
herein entgegentreten. Man hat es so dargestellt, als sei es gar nicht die 
wirkliche Ueberzeugung der Staatsregierung, daß das Wahlrecht geändert 
werden soll, als habe sie diese Vorlage nur eingebracht, weil sie durch den 
Passus der Thronrede in eine Zwangs= und Notlage versetzt worden sei. 
Man hat zwischen der Thronrede und der Ueberzeugung der Staats- 
regierung, ja der des Königs selbst einen Widerspruch festzustellen gesucht. 
Daran ist kein Wort wahr. Was die Thronrede ankündigt, ist die Willens- 
meinung Seiner Majestät des Königs, und für diese Willensmeinung tritt 
die königliche Staatsregierung mit ihrer vollen Verantwortung ein. Ich 
sprach vorhin von Strömungen in der Oeffentlichkeit, die die Reform des 
Wahlrechts fordern. Laut genug machen sie sich geltend. Aber um so 
ruhiger muß man sehen, was hinter ihnen steht. Daß die Sozialdemokratie 
das Dreiklassenwahlrecht und jede nicht mindestens auf das Reichstags- 
wahlrecht hinauskommende Reform in Grund und Boden verdammt, das 
ist nicht verwunderlich; bei den Herren spricht der nackte Wille zur Macht 
seine Sprache. Sie hoffen, mit einem Wahlrecht auf breitester demo- 
kratischer Grundlage das Staatsgefüge Preußens zu lockern und erblicken 
darin eine Etappe auf ihrem Wege zur allmählichen Unterminierung des 
monarchischen Staates. Auf dem Wege werden wir den Herren nicht 
folgen. (Abg. Borgmann: Sie werden schon müssen! Gegenrufe r.: Ruhel) 
Und darum bleibt jede Agitation und jeder Zwischenruf, der von Ihnen 
erfolgt, auf die Entschlüsse der Staatsregierung völlig wirkungslos. (Abg. 
Borgmann: Abwarten! Sie werden schon lernen! Gegenrufe r.: Ruhel!) 
Vizepräsident Dr. Porsch: Ich bitte um Ruhe! Ein Vertreter 
Ihrer Partei wird dann das Wort erhalten. Ich muß aber verlangen, 
daß Sie auch diejenige Ordnung respektieren, die Sie für sich wünschen. 
(Rufe r.: Zur Ordnung rufen!) Die Geschäftsordnung gibt leider kein 
Mittel an die Hand, um gegen derartiges Benehmen vorzugehen. 
Ministerpräsident v. Bethmann Hollweg: Bei der Forderung des 
Zentrums und des Freisinns nach dem Reichstagswahlrecht scheinen mir 
nicht so sehr Sucht nach eigener Herrschaft, wie ethische und theoretische 
Motive maßgebend zu sein. Das Zentrum wird kaum an Sitzen verlieren, 
gleichgültig, ob nach dem Reichstagswahlrecht oder nach dem Dreiklassen- 
wahlrecht reformiert wird. Es würde auch mit dem Reichstagswahlrecht 
an Stärke nicht gewinnen; höchstens würden die Persönlichkeiten wechseln.
	        
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