Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

V Veische Reich und seine einfelnen Glieder. (Jannar 11.) 13 
tretung vorhanden sein muß. Diese Ergänzung widerspricht keineswegs 
dem Geiste der Verfassung, denn für unantastbar hat man die Verfassung 
nie erklärt. 
Stellvertreter des Reichskanzlers Staatssekretär Delbrück: Die 
mecklenburgische Verfassungsfrage ist zuletzt in der Reichstagssitzung vom 
15. Juni vorigen Jahres verhandelt und die Stellung der Verbündeten 
Regierungen dazu von dem gegenwärtigen Herrn Reichskanzler dargelegt 
worden. Seitdem ist tatsächlich eine Aenderung nur insofern eingetreten, 
als die voriges Jahr schwebenden anfänglich Erfolg verheißenden Verhand- 
lungen der mecklenburgischen Regierungen mit den Ständen bedauerlicher- 
weise ergebnislos verlaufen sind. Unter diesen Umständen fehlen wie bisher 
die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung des 
Art. 76 der Reichsverfassung. Es bleibt daher nur die Frage übrig, ob 
nicht in Anbetracht der hohen Bedentung, welche der endlichen zufrieden- 
stellenden Lösung der Frage beizumessen ist, durch eine Erweiterung der 
verfassungsmäßigen Zuständigkeit auf Grund des Art. 78 die Grundlage 
für ein Eingreifen des Reiches zu schaffen wäre. Im Namen der Ver- 
bündeten Regierungen habe ich die Erklärung abzugeben, daß sie es nicht 
für angezeigt erachten, diesen Weg zu beschreiten, da sie ihn mit den födera- 
tiven Grundlagen des Reiches für unvereinbar halten. 
Bundesbevollmächtigter mecklenburgischer Gesandter Frhr. v. Bran- 
denstein: Namens der Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinischen Regie- 
rung habe ich folgendes zu erklären: Die Verhandlungen des letzten Land- 
tages über die Verfassungsreform haben einen Verlauf genommen, der die 
Hoffnung, demnächst zu einer Einigung zu gelangen, sehr gering erscheinen 
läßt. Nach dem Verlaufe der Besprechungen im August glaubte die Re- 
gierung besonders auch durch die Stellungnahme der ritterschaftlichen Mit- 
glieder sich zu der Hoffnung berechtigt, daß der Landtag die Vorlage an- 
nehmen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Landschaft stimmte 
der Vorlage grundsätzlich zu, die Ritterschaft lehnte sie aber ab und war 
nur zum Ausbau der Verfassung auf ständischer Grundlage bereit. Unter 
diesen Umständen erschien der Regierung die Einigung aussichtslos, sie zog 
die Vorlage zurück und behielt sich die Wiedereinbringung vor. Bei dieser 
Sachlage sieht sich die Großherzogliche Regierung nicht mehr imstande, die 
in der Sitzung des Reichstags vom 15. Juni 1909 abgegebene Erklärung 
aufrecht zu erhalten und einem etwaigen Eingreifen des Reiches mit der 
Erklärung entgegenzutreten, daß die Erwartung bestehe, mit der Ritterschaft 
zu einer Einigung zu kommen. Auf der anderen Seite sieht sie sich auch 
nicht veranlaßt, ein Eingreifen des Reiches zu beantragen, und kann ein 
solches auch nicht wünschen mit Rücksicht auf die Selbständigkeit der Bundes- 
staaten und den förderativen Charakter der Reichsverfassung. Diese wich- 
tigsten Bedenken sind hier socben durch den Stellvertreter des Reichskanzlers 
zum Ausdruck gebracht worden. Gleichwohl ist ihr die heutige Verhandlung 
von Wert, weil dadurch die erwünschte Klärung der Lage erreicht wird. 
Die Regierung entnimmt daraus die Bestätigung ihrer eigenen Auffassung, 
daß die von ihr als notwendig erkannte Verfassungsreform im Lande selbst 
und aus eigenen Kräften durchgeführt wird. Namens der strelitzischen Re- 
gierung habe ich lediglich hervorzuheben, daß für dieselbe nach der Er- 
klärung des Stellvertreters des Reichskanzlers kein Anlaß gegeben ist, auf 
den Inhalt der Interpellation näher einzugehen. 
Bei der Besprechung der Interpellationerklärt Abg. v. Treuen- 
fels (Dk.): Im Auftrage meiner politischen Freunde habe ich zu erklären, 
daß wir eine Einmischung des Reichstags in die Verfassungsangelegenheiten 
eines Bundesstaates als im Widerspruch mit der Reichsverfassung stehend
	        
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