Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

18 Das Dentsqhe Reich nub seine einzelnen GSlieder. (Januar 12.) 
Gegenstand einer Verordnung gemacht. Außerdem kommt die bekannte 
kaiserliche Botschaft von 1882 in Betracht, die von den politischen Beamten 
die Unterstützung der Regierungspolitik auch bei den Wahlen fordert. Auf 
dem Boden dieser Botschaft von 1882 stehen offenbar auch die Vertreter der 
Reichsregierung. Die unteren Postbeamten gehören aber nicht zu den 
politischen Beamten; sie erfüllen gerade mit der freien Ausübung ihres 
Wahlrechts die Voraussetzungen der Botschaft. Ferner wird doch bisher 
ein sehr beträchtlicher Unterschied zwischen politischen und Kommunalwahlen 
gemacht. In dieser Beziehung stehen Kanzler und Staatssekretäre ganz 
auf dem Boden der Interpellanten, diese überraschende Mitteilung muß 
ich Ihnen machen. Nach der Breisgauer Zeitung haben in Baden Post- 
beamte sich für das Abkommen zwischen Nationalliberalen und Sozial- 
demokraten ausgesprochen und für die Sozialdemokraten gestimmt, dasselbe 
ist in Dortmund und Essen geschehen; dem Vorstande der nationalliberalen 
Partei in Essen gehören auch hohe Regierungsbeamte an. In allen diesen Fällen 
sind keinem Beamten wegen seiner Ausübung des Kommunalwahlrechts irgend- 
welche Unbequemlichkeiten durch den Staatssekretär oder den Kanzler gemacht 
worden. Ich stelle die Namen dem Staatssekretär unter der Bedingung 
zur Verfügung, daß er hier öffentlich erklärt, daß diesen Beamten aus 
diesem Anlaß nichts geschehen wird. Anders verfuhr der Herr Staats- 
sekretär in Bezug auf Kattowitz. Dort schrieb er in einem hektographierten 
Briefe etwa das Folgende: „Ihr Verhalten in Kattowitz hat der von Ihnen 
erwarteten Pflichterfüllung nicht entsprochen“; es wird verlangt, daß später 
diese Pflicht „gewissenhafter“ erfüllt wird. Bald darauf erfolgten Ver- 
setzungen; die Regierung teilte allerdings eiligst mit, daß es sich nicht um 
Strafversetzungen, sondern um Versetzungen im Interesse des Dienstes 
handle. Ich kann nicht umhin, dem Kanzler und dem Staatssekretär meine 
ungeteilte Verwunderung über ihr Verhalten in allen diesen Fällen aus- 
zusprechen. Läge eine Pflichtverletzung der Beamten vor, dann wäre es 
Pflicht des Staatssekretärs gewesen, sie vor den Disziplinargerichtshof zu 
bringen. Ist dies aber nicht der Fall, dann mußten die Beamten mit 
einer Strafversetzung verschont werden. Wir haben es hier mit einer 
Scheinversetzung im Interesse des Dienstes zu tun. Wir fordern, daß die 
Maßregelungen in Kattowitz wieder gut gemacht werden und sich nicht 
wiederholen, zum Heile von Kaiser und Reich! 
Abg. Korfanty (P) begründet die Interpellation Brandys: Katto- 
witz ist der Brennpunkt eines reichen wirtschaftlichen Lebens des preußischen 
Ostens, unmittelbar an die beiden östlichen Kaiserreiche angrenzend. Die 
väterliche Fürsorge des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten hat sich jetzt 
auch diesem äußersten Winkel der Ostmark zugewendet und die Fruüchte 
gezeitigt, die hier heute zur Erörterung stehen. Es handelt sich bei 
diesen Vorkommnissen geradezu um die Ehre des deutschen Namens 
und der deutschen Nation. Die kleine liberale Minderheit in Ober- 
schlesien ist lediglich der Schleppenträger des nationalliberalen Groß- 
kapitals: sozialpolitisch ist sie reaktionär im höchsten Grade, und sie wird 
sofort vom Polen= und Katholikenkoller befallen, wenn sie nur die Worte 
„polnisch" und „katholisch" hört; ich brauche da bloß an den früheren 
Abg. Dr. Voltz zu erinnern. Wie in Kattowitz stellen sich die Verhältnisse 
im ganzen oberschlesischen Bergwerksdistrikt; überall in den dortigen Ge- 
meinden haben diese kleinen Minderheiten von pseudoliberalen Hakatisten 
mit Hilfe des Terrors der Gruben= und Hüttenbesitzer die Herrschaft in 
Händen. Die gewerbsmäßigen Hetzer aus den Reihen des Hakatismus 
werden vom Reichskanzler durch Danktelegramme noch in ihrer hetzerischen 
Tätigkeit bestärkt. Die Meinungen der Regierung sind doch nicht konstant,
	        
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