Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

26 Das Neatsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Jannar 13.) 
einem gesunden Volksegoismus erwachen, der die Wohlfahrt und die Ehre 
des Vaterlandes in allen Fragen voranstellt. 
Abg. v. Dziembowski (P.): Fast einmütig ist das Verhalten des 
Staatssekretärs verurteilt worden. (Widerspruch.) Wäre das Reich erschüttert 
worden, wenn in Kattowitz zwei polnische Stadtverordnete gewählt worden 
wären? Warum diese Angst vor dem Fleischermeister Pakulla? Hinter 
der ganzen Geschichte steckt der Ostmarkenverein, der der Regierung Vor- 
schriften macht. Das ist eine Gefahr für den Staat. Wir bekämpfen nicht 
den Staat als solchen, sondern den Hakatismus und seinen Einfluß auf 
die Regierungspolitik. Weitergehende politische Träume müssen einem Volk 
gestattet sein, das ist noch lange kein Hochverrat. Mit Zeitungsausschnitten 
erledigt man die polnische Frage nicht. Wir spielen mit offenen Karten 
und kämpfen mit offenem Visier. 
Abg. Lattmann (W. V.): Die Sozialdemokraten sollten bei ihrer 
furchtbaren Parteidisziplin etwas Verständnis für die Staatsdisziplin haben. 
Hat sich denn Herr Dr. Südekum bei seiner Rede nicht daran erinnert, 
wie denn die freie Überzeugung der eigenen Leute bei den Sozialdemokraten 
geknechtet wird? Haben Sie denn die „edlen Sechs"“, die Redakteure des 
„Vorwärts"“, ganz vergessen? (Lärm d. Sd.) Das mag Ihnen unangenehm 
sein! Wenn wir einen sozialdemokratischen Staat hätten und sozialdemo- 
kratische Beamte würden agrarisch oder christlich denken, so würden sie zum 
Teufel gejagt. Sie würden nicht in bessere Orte versetzt, sondern einfach 
auf die Straßze gesetzt. 
Abg. I#r. Doormann (Fr. Vp.): Die Stadtverordnetenwahlen in 
Kattowitz sollen dem Kampf für die Konfessionsschule gegolten haben. Nun 
sind zwar 80 v. H. der Kattowitzer Einwohnerschaft katholisch, aber nur 
37 v. H. gehören zum Zentrum bezw. zu den Polen und nur diese wollen 
die Konfessionsschule. Die Mehrheit der Kattowitzer Katholiken ist mit der 
Simultanschule vollständig zufrieden. Von geistlicher Seite ist auch nie- 
mals gegen den Religionsunterricht in der Simultanschule ein Einwand 
erhoben worden. Durch das Vorgehen der Regierung ist der polnischen 
Agitation neues Wasser auf die Mühlen geleitet worden. In Oberschlesien 
sind die Polen unter sich nicht einmal einig, und diese Entwicklung hätte 
man weiter vor sich gehen lassen sollen. Hoffentlich wird der Friede zwischen 
beiden Nationalitäten wieder hergestellt. 
13. Januar. (Sachsen.) Die Frage der Schiffahrtsabgaben 
in der Ersten Kammer. 
Der Ministerpräsident Graf Vitzthum v. Eckstädt erwiderte auf 
verschiedene Anfragen aus dem Hause, die Regierung lehne nach wie vor 
die Einführung von Schiffahrtsabgaben ab. Dieser Standpunkt vertrage 
sich aber auch durchaus mit dem Wunsche, wie bisher die bundesfreundlichen 
Beziehungen mit der preußischen Regierung in altbewährter Weise zu 
pflegen. Er glaube im übrigen, auch die preußische Regierung teile die 
Ansicht, daß Verfassungsänderungen, soweit ihnen grundsätzliche Rechte ein- 
zelner Bundesstaaten entgegenstehen, nicht ohne Zustimmung dieser Staaten 
beschlossen und jedenfalls nicht gegen ihren Willen zur Durchführung ge- 
langen sollten. 
13. Jannuar. (Reichstag.) Bei der ersten Beratung der 
Gesetzentwürfe betr. Anderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, der 
Strafprozeßordnung und eines zu beiden Gesetzen gehörenden Ein- 
führungsgesetzes wies der neue Staatssekretär des Reichsjustizamtes
	        
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